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Eine fragwürdige Form von Schuld

Bestseller Autorin Charlotte Link erklärt im Interview zu «Ohne Schuld» wieso es ihr wichtig ist, dass Leser*innen die Täter in ihren Büchern verstehen können.

Charlotte Link hautnah

Charlotte Link Portät
Bild: © Julia Baier

Bis vor einigen Jahren haben Sie das Personal in Ihren Kriminalromanen ständig gewechselt. Mit den Ermittlern Kate Linville und Caleb Hale haben Sie zum ersten Mal Serienfiguren erschaffen. Warum sind Sie diesen Schritt gegangen, was reizt Sie an diesem Duo? Oder liegt es daran, dass die beiden bei den Lesern so gut ankommen?
Würden die Leser sie nicht mögen, wäre das wahrscheinlich schnell spürbar gewesen und ich hätte die beiden als Figuren nicht weiterentwickelt. Aber das Interesse an ihnen ist gross, übrigens auch mein eigenes. Ich habe Lust, zu erfahren, wie es mit ihnen weitergeht. Vor allem Kate ist eine Frau, die mich interessiert, mit ihr bin ich noch nicht fertig. Von ihr will ich persönlich noch mehr wissen, weil ich glaube, dass noch viel unentdecktes Potenzial in ihr steckt. Man meint wahrscheinlich, dass ich als die Autorin, die sie geschaffen hat, einen genauen Plan mit ihr hätte, aber das ist nicht der Fall. Wie alle Figuren begann Kate mit der ersten Episode über sie ein Eigenleben, und das nimmt in jedem Buch seinen eigenen Verlauf. Ich bin selbst neugierig, was noch kommt.

Das Thema Einsamkeit kommt in vielen Ihrer Bücher vor. Auch Kate Linville und Caleb Hale, die in «Ohne Schuld» zum dritten Mal gemeinsam ermitteln, sind einsame, verwundete Menschen. Gerade Kate treibt das um, denn sie möchte eigentlich nicht allein sein. Weshalb haben Sie Ihre Protagonisten so gezeichnet?
Einsamkeit ist ein grosses Thema in unserer Zeit. Glaubt man Statistiken und Erhebungen, so greift Einsamkeit als Lebensgefühl um sich, auch und besonders unter jungen Menschen. Es ist ein Problem, dass Menschen Einsamkeit nur schwer thematisieren können: Sich einsam zu fühlen ist so etwas wie die ultimative Schmach. Über vieles kann man reden – Alkohol, Drogen, Essstörungen –, aber jemand, der zugibt, einsam zu sein, wird schnell stigmatisiert. Hat er keine Freunde? Kommt er mit dem Alleinleben nicht klar? Hoch verdächtig. Besonders Frauen, die zugeben, sich nach einer Beziehung zu sehnen, ziehen ausgesprochen klischeehafte Belehrungen auf sich in der Art: Lerne erst einmal, alleine klarzukommen, nur dann kann das auch mit einer Partnerschaft klappen. Man muss ungeheure Energie darauf verwenden, es vor seiner Umwelt zu verbergen, wenn man als Single nicht glücklich ist. Mit all diesen Problemen schlägt sich Kate, die eine begabte und hochintuitive Polizistin ist, herum. Ich habe sie so gezeichnet, weil ich glaube, dass sie damit ein Problem unserer Zeit verkörpert.

Sie spielen ja mit dem Begriff Schuld bereits im Titel Ihres aktuellen Kriminal-romans. Und gleich zu Beginn muss sich Caleb Hale der Schuldfrage stellen, ob er bei einem Einsatz alles richtig gemacht hat oder nicht – denn er war alkoholisiert. Warum zieht sich die Frage nach der Schuld durch den ganzen Roman?
Als der Plot mit dem getöteten Kind feststand, war für mich klar: Schuld wird das Thema dieses Buches sein. Es kristallisierte sich dann im Laufe des Romans heraus, dass die anderen Taten etwas mit Rache, mit Vergeltung zu tun haben, also auch mit Schuld. Ich wollte eine Form von Schuld, die fragwürdig ist. Deswegen der Titel «Ohne Schuld». Bei fast keinem der Beteiligten ist die Schuldfrage so zu beantworten, dass man ihn dafür eindeutig verurteilen kann.

Die Täter in Ihren Büchern wollen Sie nicht verurteilen, sondern verstehen. Warum ist es Ihnen so wichtig, dass man auch Verständnis hat für solche Menschen?
Ich beschreibe schon auch manchmal das abgrundtief Böse an sich, für das jedes Verständnis fehlt. Aber das ist nicht das, was mich fasziniert. Sondern Menschen, die, ohne eine kriminelle Veranlagung zu haben, in Situationen geraten, in denen sie Schreckliches tun. Ausgelöst durch Schicksalsschläge, durch falsche Entscheidungen, durch die Begegnung mit den falschen Menschen. Es kann alles Mögliche sein. Alice und Oliver, das Paar in «Ohne Schuld», sind eigentlich normale, nette Menschen, die für ihre Kinder das Beste wollen. Alice jedoch verliert sich vollkommen selbst in ihrer totalen Erschöpfung. Sie ist absolut kein böser Mensch, schon gar keine kaltblütige Mörderin. Trotzdem lädt sie schwere Schuld auf sich. Und das finde ich faszinierend als Autorin – und hoffentlich der Leser auch. Auch Oliver ist nicht böse. Es möchte ja keiner nach Hause kommen und so eine Szene erleben, wie er sie erlebt: das eigene Kind tot, getötet von der eigenen Frau. Das ist grauenhaft. Er hat nur wenig Zeit nach der Tat. Er ist in einer aussichtslosen Lage. Er will alles tun, um seine Frau zu retten, die Familie. Und löst damit nur noch mehr Unheil aus.

2020 unterschied sich ja sicher auch für Sie als Autorin von anderen Jahren, in denen ein neuer Kriminalroman von Ihnen erschienen ist. Was ging Ihnen besonders ab?
Da gerade «Ohne Schuld» erschienen war, fehlten mir die Veranstaltungen, die sonst einen Herbst, in dem ich ein neues Buch habe, begleiten. Lesungen und Signierstunden vor allem. Der unmittelbare Kontakt mit meinen Lesern. Der ist mir wichtig, und es ist etwas, worauf ich mich immer freue. Die kurzen Gespräche nach einer Lesung, gemeinsame Selfies – all das, was zur Zeit ausgeschlossen ist. Es war früher so selbstverständlich, wie vieles, das wir jetzt vermissen. Aber irgendwann kehren wir zu unserem alten Leben zurück, da bin ich sicher. Man muss jetzt durchhalten. Leider auch die, die weitaus grössere Probleme haben als den Verzicht auf Veranstaltungen.