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Eine einzigartige Innenansicht des Autismus und zugleich ein faszinierender Einblick in die Kraft des menschlichen Geistes
Daniel Tammet ist ein Genie: Er rechnet schneller als jeder Computer dieser Welt und spricht zehn Sprachen. Zahlen nimmt er als Formen, Farben und Charaktere wahr. Für Hirnforscher ist er ein besonderer Fall: Seine erstaunlichen mentalen Fähigkeiten sind auf das Savant-Syndrom und eine gemäßigte Form des Autismus zurückzuführen. In seiner Autobiografie gibt der 29-Jährige Einblick in seine Wahrnehmung der äußeren Welt, seine Suche nach innerer Ruhe und die kurzen Momente des Glücks.
"Sein Buch ist eine fesselnde, authentische Innenschau (...). Ein ungewöhnlicher Einblick in die verwirrenden Wahrnehmungs- und Denkprozesse eines sympathisch bescheidenen Hochbegabten, der mit scharfem Verstand seine Erkrankung analysiert.
Autorentext
Daniel Tammet, 1979 in London geboren, arbeitete nach seiner Schulausbildung zunächst als ehrenamtlicher Englischlehrer in Litauen. In enger Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern versucht er, seine Krankheit zu erforschen und besser zu verstehen. Er lebt heute in Kent und leitet ein Online-Unternehmen, das Sprachkurse anbietet.
Leseprobe
Blaue Neunen und rote Wrter
Ich wurde am 31. Januar 1979 geboren - einem Mittwoch. Ich wei es war ein Mittwoch, denn in meiner Vorstellung ist der Tag blau, und Mittwoch ist immer blau - wie die Zahl Neun oder der Klang lauter, streitender Stimmen. Mir geft mein Geburtsdatum, weil ich die meisten Zahlen darin als glatte, runde Formen vor mir sehen kann - so wie Kieselsteine an einem Strand. Das liegt daran, dass es Primzahlen sind: 31, 19, 197, 97, 79 und 1979 lassen sich alle nur durch sich selbst und durch eins teilen. Ich kann jede Primzahl bis 9973 an ihrer kieselsteinartigen Beschaffenheit erkennen. So arbeitet mein Gehirn.
Ich habe eine seltene Krankheit, das sogenannte Savant-Syndrom, das wenig bekannt war, bis es 1988 von dem Schauspieler Dustin Hoffman in dem Oscar-prerten Film Rain Man dargestellt wurde. Wie die von Hoffman verkrperte Gestalt des Raymond Babbitt habe ich ein fast zwanghaftes Bedrfnis nach Ordnung und Routine, das praktisch jeden Bereich meines Lebens beeinflusst. So esse ich zum Beispiel jeden Morgen exakt 45 Gramm Porridge zum Frhstck; ich wiege die Schssel mit einer elektronischen Waage, um ganz sicher zu sein. Dann ze ich die Anzahl der Kleidungsstcke, die ich trage, bevor ich das Haus verlasse. Ich werde unruhig, wenn ich meinen Tee nicht jeden Tag um die gleiche Zeit trinken kann. Immer wenn ich unter zu starken Stress gerate und nicht ordentlich atmen kann, schlie ich die Augen und ze. An Zahlen zu denken hilft mir, mich wieder zu beruhigen.
Zahlen sind meine Freunde und sie sind stig um mich. Jede ist einzigartig und hat ihre ganz eigene Persnlichkeit. Elf ist freundlich und Fnf ist laut, wend Vier still und schchtern ist - sie ist meine Lieblingszahl, vielleicht weil sie mich an mich selbst erinnert. Einige Zahlen sind gro wie 23, 667, 1179, andere klein, wie 6, 13, 581. Einige sind schn, wie 333, und einige hlich, wie 289. Fr mich ist jede Zahl etwas Besonderes.
Ganz gleich, wohin ich gehe oder was ich tue, Zahlen sind in meinem Denken immer sehr prnt. Bei einem Interview mit dem Talkshow-Moderator David Letterman in New York sagte ich David, er sehe aus wie die Zahl 117 - ground schlaksig. Als ich spr draun auf dem Times Square stand und zu den hoch aufragenden Wolkenkratzern hinaufsah, fhlte ich mich wie von lauter Neunen umgeben - die Zahl, die ich am ststen mit dem Eindruck von Gr verbinde.
Die Wissenschaft bezeichnet meine visuell-emotionale Wahrnehmung von Zahlen als Synhesie, eine seltene neurologische Vermischung der Sinne, die in den meisten Fen zu der Fgkeit fhrt, dass man die Buchstaben des Alphabets und/oder Zahlen in Farbe sieht. Bei mir ist die Synhesie so ungewhnlich und komplex ausgepr, dass ich Zahlen als Formen, Farben, Stoffe und Bewegungen wahrnehme. Die Zahl Eins zum Beispiel ist ein strahlend helles Wei als ob mir jemand mit einer Taschenlampe direkt in die Augen leuchten wrde. Fnf ist ein Donnerschlag oder der Klang von Wellen, die gegen Felsen branden. Siebenunddreig ist klumpig wie Porridge, wend mich Neunundachtzig an fallenden Schnee erinnert.
Der wahrscheinlich berhmteste Fall von Synhesie war der eines Journalisten namens Schereschewski, der ber ein phmenales Gedtnis verfgte. Seine Geschichte wurde ab den 1920er-Jahren von dem russischen Psychologen A. R. Lurija ber einen Zeitraum von dreig Jahren beobachtet und aufgezeichnet. S, wie Lurija ihn in seinem Portreines gron Gedtnisses nennt, hatte ein ausgepres visuelles Gedtnis, das ihm ermglichte, Worte und Zahlen in unterschiedlichen Formen und Farben zu sehen. S konnte eine Tabelle mit 50 Zahlen erinnern, nachdem er sie drei Minuten lang betrachtet hatte - nicht nur sofort im Anschluss an den Test, sondern auch noch viele Jahre spr. Lurija hielt Schereschewskis synhetische Wahrnehmung fr die Grundlage seines erstaunlichen Kurz- und Langzeitgedtnisses.
Ich selbst nutze meine synhetischen Erfahrungen seit frhester Kindheit und bin mit der Fgkeit aufgewachsen, gro Zahlen ohne bewusste Anstrengung im Kopf zu rechnen, genau wie die Figur des Raymond Babbitt. Tatslich ist dies ein verbreitetes Talent bei mehreren anderen realen Savants (die manchmal auch als Blitzrechner bezeichnet werden). Der in Wisconsin lebende Arzt Dr. Darold Treffert, ein fhrender Wissenschaftler auf dem Gebiet des Savant-Syndroms, beschreibt in seinem Buch Extraordinary People das Beispiel eines Blinden, dessen Rechenfgkeit an ein Wunder grenzt:
Als er gefragt wurde, wie viele Saatkrner sich in jeder von 64 Kisten befen, wenn in der ersten Kiste ein einzelnes Saatkorn w, zwei Krner in der zweiten, vier in der dritten, acht in der vierten usw., nannte er die Lsung fr die vierzehnte (8192), fr die achtzehnte (131 072) und die vierundzwanzigste (8 388 608) Kiste sofort und die Lsung fr die achtundvierzigste Kiste (140 737 488 355 328) innerhalb von sechs Sekunden. Auch die Gesamtzahl der Saatkrner in allen Kisten gab er nach fnfundvierzig Sekunden korrekt mit 18 446 744 073 709 551 616 wieder.
Meine Lieblingsrechenart ist die Potenz-Multiplikation, was bedeutet, dass man eine Zahl mehrmals mit sich selbst malnimmt. Wenn man eine Zahl mit sich selbst multipliziert, bezeichnet man das Produkt der beiden Faktoren als Quadrat oder als zweite Potenz; die Quadratzahl von 72 ist zum Beispiel 72x72 = 5184. Quadratzahlen sind in meiner Vorstellung immer symmetrische Formen, was ich besonders schn finde. Multipliziert man eine Zahl dreimal mit sich selbst, nennt man das die Zahl hoch drei nehmen oder die dritte Potenz bilden. Die dritte Potenz von 51 entspricht 51x51x51 = 132 651. Ich sehe jedes Ergebnis einer Potenzrechnung als klares visuelles Muster in meinem Kopf. Je grr die Berechnungen und ihre Ergebnisse werden, desto komplexer werden die Formen und Farben, die ich wahrnehme. Ich sehe die fnfte Potenz von 37 (37x37x37x37x37 = 69 343 957) als gron Kreis, der aus kleinen Kreisen besteht, die ausgehend vom oberen Rand im Uhrzeigersinn verlaufen.
Wenn ich eine Zahl durch eine andere teile, sehe ich vor meinem inneren Auge eine Spirale, die sich in immer grr werdenden Windungen und Schleifen nach unten schraubt. Unterschiedliche Divisionen erzeugen unterschiedlich gro Spiralen mit unterschiedlich verlaufenden Kurven. Durch meine mentale Bilderwelt kann ich eine Rechenaufgabe wie 13:97 (0,1340206 ...) bis auf fast 100 Dezimalstellen genau berechnen.
Ich schreibe beim Rechnen nie etwas auf, weil ich die Aufgaben schon immer im Kopf rechnen konnte, und es ist viel leichter fr mich, mir die Lsung mithilfe meiner synhetischen Formen vorzustellen, als die Techniken anzuwenden, die in den Schulrechenbchern gelehrt werden (z.B. Einen-im-Sinn-behalten u.. Wenn ich eine Multiplikation durchfhre, sehe ich die beiden Zahlen als versc…