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Ein psychologisch raffinierter Roman über die langen Schatten unserer Herkunft und darüber, dass uns oft die Menschen das größte Rätsel bleiben, die wir am besten zu kennen glauben: unsere Kinder.
Lilach Schuster hat alles: ein Haus mit Pool im Herzen des Silicon Valley, einen erfolgreichen Ehemann und das Gefühl, angekommen zu sein in einem Land, in dem man sich nicht in ständiger Gefahr wähnen muss wie in ihrer Heimat Israel. Doch dann stirbt auf einer Party ein Mitschüler ihres Sohnes Adam. Je mehr Lilach über die Umstände des Todes erfährt, desto grösser wird ihr Unbehagen: Ist es möglich, dass Adam irgendwie damit in Verbindung steht?
»Ein packender Psychothriller.« Kronen Zeitung, 03.12.2021
Autorentext
Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, studierte Psychologie in Tel Aviv, später Film und Drehbuch in Jerusalem. Ihrem ersten Roman Eine Nacht, Markowitz (2013) wurde der renommierte Sapir-Preis für das beste Debüt zugesprochen, 2015 folgte mit Löwen wecken ihr zweiter Roman, der international für Furore sorgte und zurzeit als TV-Serie verfilmt wird. Lügnerin, ihr dritter Roman, erschien 2017. Nachdem sie mit ihrer Familie einige Zeit in Kalifornien wohnte, lebt sie nun wieder in Tel Aviv.
Leseprobe
1
Ich sehe im Geist diese winzigen Fingerchen, die eines Neugeborenen, und versuche zu begreifen, wie sie zu den Fingern eines Mörders heranwachsen konnten. Der tote Junge heißt Jamal Jones. Auf dem Bild in der Zeitung sind seine Augen samtschwarz. Mein Junge heißt Adam Schuster. Seine Augen sind blau wie das Meer von Tel Aviv. Es heißt, er habe ihn umgebracht. Aber das stimmt nicht.
2
Ich heiße nicht Lila. Die Amerikaner haben Mühe, Lilach zu sagen, deshalb nennen mich hier alle Lila. Aber ich heiße nicht Lila. Mit Michael ist es leicht. Sie sprechen seinen Namen einfach Maikel aus. Er korrigiert sie nie. Das wäre unhöflich. Und während ich mich immer mit »Lilach« vorstelle und die neue Bekanntschaft vom Zweifel profitieren lasse, ob sie mich in Lila verwandelt was ich zwar ohne Protest hinnehme, aber nicht unterstütze , sagt Michael »Maikel«. Er behauptet, das sei egal, beinahe dasselbe. Doch in meiner Fantasie hat, als sie ihn viereinhalb Monate nach Jamals Tod an den Polygrafen anschlossen und nach seinem Vornamen fragten, bei der Antwort »Maikel« die Nadel gezittert. Wenn wir miteinander schlafen, nenne ich ihn Michael. Einmal habe ich ihn Maikel genannt, und das fühlte sich an, wie mit einem anderen zu schlafen. Als Adam geboren wurde, bekam er einen neutralen Namen. Einen, der auf Hebräisch und Englisch funktioniert. Einen Namen, der den Amerikanern durch die Kehle rinnt wie guter kalifornischer Wein, ihnen nicht im Hals stecken bleibt wie Lilach und Michael, die gleich beim ersten Hören signalisieren: nicht von hier. Wir haben ein Kind in den USA großgezogen. Haben seine israelische Identität im Schrank verstaut, zusammen mit den Fußballpokalen, die Michael vom Gymnasium aufbewahrt zur Erinnerung, nicht weil sie irgendeinen Nutzen hätten. Wir haben ein amerikanisches Kind großgezogen, das mit amerikanischen Kindern in die Highschool geht, und jetzt soll es ein anderes amerikanisches Kind umgebracht haben.
3
Jamal Jones. Dein Gesicht sieht gutmütig aus, aber deine Größe wirkt bedrohlich. Deine Schultern sind breit, der - maßen breit, dass sie dich womöglich selbst überrascht. Vielleicht ist es schnell gekommen, ein sommerlicher Wachstumsschub, bei dem du dich, ohne Vorwarnung, von einem schmalen, kleinen Jungen zu einem großen, breiten Teenie entwickelt hast. Aber das Gesicht hat das Tempo nicht mithalten können, der Körper ist in die Länge und Breite gewachsen, doch die Augen sind noch die eines Kindes genauso wie die Lippen, ohne den geringsten Bartansatz, ein bisschen vorgeschoben, kindlich süß irgendwie. Nachts auf der Straße hätte ich Angst vor dir gehabt. Hätte nicht innegehalten, um in deine Augen zu schauen, die mir jetzt, auf dem Zeitungsfoto, gütig und sympathisch vorkommen. Wahrscheinlich wäre ich einen Schritt schneller gegangen. Hätte die Hand in die Tasche gesteckt, um mich zu vergewissern, dass das Telefon da ist, für alle Fälle. Ich wäre auf die besser beleuchtete Straßenseite gewechselt und hätte abgewartet, bis du ein breitschultriger Schwarzer um die nächste Ecke verschwunden wärst. Und hätte ich Adam dabeigehabt, wäre ich doppelt nervös gewesen. Nicht nur eine Frau auf der Straße und ein schwarzer Mann hinter ihr, sondern eine Frau mit einem Kind, das beschützt werden muss. Dass ihr im gleichen Alter wart, spielt keine Rolle. Du warst ein Mann, Jamal, und Adam ist ein Kind. Klein und schmächtig und die Schultern ein bisschen hängend, wie ein Vogeljunges, das noch nicht flügge ist. Und deshalb verstehe ich es nicht. Dein Foto in der Zeitung. Die gutmütigen Augen. Die breiten Schultern. Kaum vorstellbar, dass ich die ganze Zeit Angst vor dir hatte, wo du vielleicht Angst vor mir hättest haben sollen, vor dem, was ich hatte gebären können. Jetzt habe ich ständig Angst, Jamal. Angst vor allem. Damals habe ich mich noch nicht so viel gefürchtet, nur selten mal. Ich erinnere mich: Jeden Abend zogen wir drei die Hausschuhe aus, stellten sie auf den Parkettboden und gingen schlafen. Im Doppelbett las ich am Smartphone Nachrichten aus Israel, bis Michael »Es ist schon spät« sagte und per Knopfdruck die Läden runterließ. Jenseits der Läden lag das Grundstück, das zum Haus gehört, und dahinter eine ruhige, grüne Weite, die an eine ruhige, grüne Avenue reichte, in einer der ruhigsten, grünsten und sichersten Städte der Vereinigten Staaten von Amerika.
4
Am Abend des jüdischen Neujahrsfestes betrat ein Mann mit einer Machete eine Reformsynagoge in einer der ruhigsten, grünsten und sichersten Städte der Vereinigten Staaten. In der Synagoge befanden sich zweihundertzwanzig Betende und fünfzehn Angestellte der Cateringfirma. Im Gemeindesaal, der sonst für Bar-Mizwa-Feiern diente, standen weiß eingedeckte Tische für den Neujahrs-Kiddusch. An den Wänden reihten sich Hochstühle für Kleinkinder, denn zu den regulären Betern dieser Synagoge, die zumeist das Rentenalter erreicht hatten, gesellten sich an den Hohen Feiertagen auch deren Kinder, Enkel und Urenkel. Der Gottesdienst im oberen Stockwerk war gerade zu Ende, und die Besucher strömten die Treppe herab. Unten im Gemeindesaal trugen die Angestellten Schalen mit Äpfeln und Gläser mit israelischem Honig auf. In den Nachrichten hieß es später, sie hätten noch Glück gehabt: Der Attentäter in der Synagoge von Pittsburgh war mit einem halb automatischen Gewehr bewaffnet gewesen und hatte elf Betende erschossen, bevor er festgenommen wurde. Hier in Palo Alto waren vier Frauen verletzt und nur eine getötet worden. Ich verstand, was sie in den Nachrichten meinten, wusste jedoch, dass die Eltern von Leah Weinstein es gewiss nicht als Glück empfanden. Ihre Tochter hatte an der Tür gestanden, als der Kerl mit der Machete hineingestürmt war. Im Fernsehen wirkte sie jünger als ihre neunzehn Lebensjahre. Vielleicht wegen des Make-ups. Sie hatte ein rundes Gesicht mit sanften, braunen Augen, und das Make-up machte sie nicht etwa älter, sondern unterstrich noch ihre jugendliche Ungeübtheit. Auf Fotos, die kurz vor dem Anschlag aufgenommen worden waren, stand sie im weißen Festkleid am Eingang der Synagoge. Sie hatte die Arme um den Leib geschlungen, wie jemand, der sich eigentlich nicht gern fotografieren lässt, es jedoch hinnimmt, weil die Familie es wünscht. Ein wohlerzogenes Kind. Aber als jener Mann mit der Machete in die Synagoge rannte, verhielt sich Leah Weinstein nicht wie ein Kind. Sie drängte ihre Großmutter nach hinten und sprang vor sie, und das war das Letzte, was sie tat. In den Tagen nach dem Anschlag sah ich mir das Video mehrmals an. Die mollige junge Frau im weißen Kleid steht am Eingang, neben ihren Großeltern. Im Hintergrund singt der Synagogenchor ein Potpourri von Festtagsliedern. Es ist schwer, den genauen Moment zu erfassen, w…