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Wie entscheidet sich eine werdende Mutter, die erfährt, dass ihr Kind mit einer geistigen Behinderung auf die Welt kommen wird? Möchte sie das Kind um jeden Preis behalten oder erwägt sie eine Abtreibung? Die verwitwete Ann Katrin Albrecht fühlt sich nicht in der Lage, eine solche Entscheidung zu treffen. Doch die Zeit läuft ihr davon. Sie muss sich entscheiden. Hella Seibt hat ein behindertes Kind. Kurt ist oft anstrengend, doch genauso oft originell und vor allem liebenswert. Hella ist glücklich mit ihrer Familie. Eine Vorahnung wird jedoch schon bald zur Gewissheit: Ihr Mann Chris hat eine Geliebte. Möchte er sich aus seiner Ehe befreien, in der sich scheinbar alles nur um das behinderte Kind dreht? Durch einen Zufall lernen sich die beiden Frauen kennen und fast ohne es zu wollen, helfen sie einander in schwierigen, zum Teil rätselhaften Situationen. Dieses Buch gibt uns Einblicke in die spannende, oft etwas andere Welt von Kindern mit Handicap und es erzählt von der Liebe in ihren zahlreichen Facetten.
Autorentext
Angela Kreher ist die Urenkelin des aus Beierfeld im Erzgebirge stammenden Heimatdichters Fritz Körner. Vielleicht kommt daher ihre Freude am Schreiben. Seit Anfang der 90er Jahre arbeitet sie als Lehrerin an einem Förderschulzentrum vorwiegend mit geistig behinderten Schülerinnen und Schülern. Wenn das Leben den Plan ändert ist bereits ihr zweites Buch.
Leseprobe
Hella Die grauen Haare wurden im hellen Licht des Badezimmers sichtbar, ebenso die Falten und Fältchen um Augen und Mund. Besonders früh nach dem Aufstehen zeigten sich die kleinen Teufelchen unbarmherzig. Sie schminkte sie weg mit teuren Cremes und Make up. Doch wenn sie wenige Stunden später durch Zufall in den Spiegel sah, waren sie wie durch Zauberhand wieder da. Sie wusste, sie wirkte dadurch nicht interessant oder attraktiv, lebensweise oder klug. Nein, sie wusste, sie wirkte alt. Sie war es nicht wirklich. Frauen mit Anfang vierzig sind heutzutage nicht mehr alt, sondern so gefragt wie selten, sofern sie unabhängig, flexibel und selbstbewusst sind. Hella fühlte sich flexibel und manchmal auch sehr selbstbewusst, aber ganz bestimmt nicht unabhängig. 'Die grauen Haare sind eindeutig von Leonie und die dicken Falten von Kurt', dachte sie wieder einmal halb belustigt, halb resigniert. 'Ich muss sofort einen Termin beim Friseur und bei der Kosmetikerin machen.' 'Hella, Frühstück ist fertig.' Chris, ihr Mann schob sich mit seiner dunklen Stimme in ihre Gedanken. Das Frühstück betrachtete er als seine Aufgabe, ansonsten waren Haushalt und Kinderbetreuung ihre Domäne. 'Von wegen Gleichberechtigung', sagte Hella oft, wenn sie sich über ihre familiären Aufgaben unterhielten. 'Ich meistere das Tagesgeschäft, während du der Mann fürs Besondere bist.' Ihre Ehe verlief alles andere als perfekt, aber auch nicht schlechter als die Beziehungen in ihrem Bekanntenkreis. Im Gegenteil, sie liebte ihren Mann nach 18 Ehejahren noch und würde ihn immer wieder heiraten. Er war zwar kein Hausmann und drückte sich beim Saubermachen, wo er nur konnte, aber wenn es darauf ankam, war er zur Stelle. Und er stand zu seinen Kindern, bedingungslos. Natürlich waren ihr in der letzten Zeit die großen Stimmungsschwankungen, denen Chris unterlag, aufgefallen. Das kannte sie nicht von ihm. Ihm war eher ein ausgeglichener Charakter eigen. Jetzt allerdings konnte es passieren, dass er abends ein Glas Bier zu viel trank und dann ungerecht gegenüber ihr und den Kindern wurde. Vor allem ihr und Leonie gegenüber, dabei hatte Hella manchmal den Verdacht, er meinte nicht sie, sondern Kurt. Außerdem hatte er kürzlich den Pin Code seines Smartphones geändert, ohne es ihr zu sagen und vor allem ohne Grund. Oder war sie blöde? Gab es einen Grund? Wenn eine andere Frau im Spiel wäre, hätte sie das gemerkt, ganz klar! Chris und eine andere Frau, undenkbar! Nein, sie waren lediglich ausgelaugt und hatten sich im Alltag irgendwie verloren. Deshalb buchte Hella heimlich dieses schicke Ferienhaus an der Ostsee. Wenn Kurt in wenigen Wochen auf Klassenfahrt fuhr, wollte sie mit Chris dort ein paar Tage Urlaub machen. Sie würden neue Kraft tanken, spazieren gehen, sich lieben und lachen - wie früher. Für Leonie galten klare Absprachen in der Zeit, in der sie alleine das Haus betreute. Ihre 16-jährige Tochter freute sich, einmal für kurze Zeit Hausherrin spielen zu können. Während sie mit diesen Gedanken hinunter in die Küche ging, hörte sie laute Musik aus Kurts Zimmer. Der sollte doch schon längst am Frühstückstisch sitzen. In zwanzig Minuten kam sein Schulbus und Kurt benötigte früh viel Zeit, um alle seine Geschäfte' zu erledigen. Typisch Chris, der merkte wiedermal nicht, dass Kurt zeitlich schon längst überfällig war. Oder hatte er es gemerkt und wollte der leidigen Diskussion mit seinem Sohn aus dem Wege gehen? Durchaus denkbar, sogar sehr wahrscheinlich. Sie öffnete die Zimmertür und sah Kurt vorm Kleiderschrank stehen. Er hatte nur die Unterwäsche und Socken an. Für seine 13 Jahre war er eher klein gewachsen und stämmig. Nicht dick, keineswegs, obwohl er aufgrund seiner Behinderung zum Dickwerden neigte. Er hatte dunkle Haare und ebenso dunkle, mandelförmige Augen. Ein hübscher Junge, ein hübscher, ziemlich eigensinniger Junge, ein hübscher, eigensinniger Junge mit Down Syndrom. 'Kurt, was soll das heute werden? Ich hatte dir gestern Abend deine Anziehsachen rausgelegt. Du musst sie nur vom Stuhl wegnehmen.' Kurt schaute sie überrascht an, gerade so, als wäre sie behindert und nicht er. Vielleicht wars ja tatsächlich manchmal so, wer weiß das schon immer genau! Aber heute nicht. Heute war sie eine normale Mutter, die ihr Kind pünktlich zur Schule schicken wollte. Und das ging nur, wenn er sich anzog. 'Die Hose ist zu dick. Die hatte ich im Winter an. Aber es ist doch schon Frühling.' Kurts Stimme war so dunkel wie die des Vaters, aber seine Aussprache klang stets etwas undeutlich und verwaschen. Die Eltern verstanden ihn immer, seine Schwester ebenso. Fremde dagegen mussten oft nachfragen. Beziehungsweise sie fragten nicht nach, sondern übergingen seine Worte einfach. Kurt war das gewohnt und es störte ihn nicht sonderlich. Er kannte es nicht anders. 'Die Hose hatte ich im Winter an!', wiederholte er störrisch. 'Jetzt ist Frühling.' Er zog eine dreiviertellange Hose aus dem Schrank und dazu ein dünnes T-Shirt mit kurzen Ärmeln. 'Kurt, draußen ist es kalt. Es sind 12 Grad am Thermometer. Es kann im Frühling genauso kalt wie im Winter sein. Schau doch mal aus dem Fenster, es regnet gleich. Wenn du dich erkältest, müssen wir zum Arzt und die Schule kannst du dir dann abschminken. Willst du das?' ---- 'Willst du das?' 'Nö...' 'Na dann los, zieh die lange Hose an und komm in die Küche, aber schnell, sonst fährt der Bus ohne dich.' 'Der Junge macht mich wahnsinnig', dachte Hella, als sie in die Küche ging und ihrem Mann einen schnellen Guten-Morgen-Kuss gab. Das Gleiche dachte Kurt, als Hella die Türe hinter sich geschlossen hatte. 'Die Mutter macht mich wahnsinnig! Sie setzt immer ihren Kopf durch. Sie hat immer Recht. Ob irgendwann die Zeit kommt, in der ich mal Recht habe?' Und dann beeilte er sich, um noch schnell einen Schokopudding zu essen, ehe er zur Schule fuhr. Als Hella vor 14 Jahren zum zweiten Mal schwanger war, glaubte sie die glücklichste Frau auf der Erde zu sein. Als sie 9einhalb Monate später ihren Sohn entband, glaubte sie, sie wäre die unglücklichste Frau im ganzen Universum. Sie hatte eine Schwangerschaft ohne Auffälligkeiten hinter sich und alles für den Start mit dem Baby geplant. Sie arbeitete als Sprechstundenschwester bei einem Zahnarzt in ihrem Wohnort und hatte dessen Zusage, dass sie dort nach Ablauf des Babyjahres wieder voll einsteigen könne. Ihr Mann war KFZ-Meister in einem großen Autohaus. Zeitlich würde er sie nur bedi…