Tiefpreis
CHF54.40
Auslieferung erfolgt in der Regel innert 1 bis 2 Wochen.
Kein Rückgaberecht!
In Wissenschaft und Politik dominiert die These, dass Prekarisierung die Solidaritäts-und Mobilisierungsfähigkeit für gewerkschaftliches Interessenhandeln hemmt. Dabei werden die individuellen Ungerechtigkeitswahrnehmungen der Betroffenen meist außer Acht gelassen. Auf der Basis von Interviews und Gruppendiskussionen rekonstruiert Thomas Goes Deutungsmuster, mit deren Hilfe Leiharbeiter und prekarisierte Normalbeschäftigte im Großhandel ihre Situation verarbeiten. Seine Forschungsergebnisse fördern die Potenziale solidarischer Interessenpolitik zutage.
Autorentext
Thomas Goes ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Industrie-, Arbeits- und Wirtschaftssoziologie der Universität Jena.
Leseprobe
Dank
Wissenschaftliches Arbeiten ist ein Gemeinschaftsprojekt - auch dann, wenn es manchmal einsam wird am Schreibtisch: Gespräche, Anregungen, Bezüge, Korrekturen, Aufmunterungen und Kritiken, vielfältige Formen der Unterstützung. So wäre auch diese Arbeit ohne eine Vielzahl von Menschen und Institutionen nicht entstanden. Danken möchte ich an erster Stelle Frauke Banse, die mich immer wieder bestärkt hat, auf der richtigen Spur zu sein und sich trotz eigener Promotion Zeit genommen hat, inhaltliche und konzeptionelle Fragen zu diskutieren, wieder und wieder - ein Kraftakt. Donna McGuire hat in zahl-reichen Spaziergängen im Auepark das Leben mit mir diskutiert - und mich so die Anstrengungen der Dissertation zumindest kurzzeitig verges-sen lassen. Philipp Kufferath las nicht nur große Teile meiner Arbeit und gab mir wertvolle Hinweise, sondern wusste mein Vertrauen in meine intellektuellen Fähigkeiten auch immer wieder zu stärken - in den Tief-phasen einer Promotion ist das ein kaum zu überschätzender Freund-schaftsakt. Dass meine Forschung auch für Menschen von Relevanz sein mag, die sich für eine solidarische und demokratische Gesellschaft einsetzen, haben mir Michael Heldt, Violetta Bock und - erneut - Frauke Banse in vielen Gesprächen verdeutlicht. Nestor D'Alessio war für mich in den Jahren der Promotion oft ein Vorbild für Belesenheit, offenes Denken und Lust auf politisches Eingreifen zugleich. Ohne Imke Voigtländer, die das zu lang geratene Manuskript ausgesprochen gründlich formal Korrektur gelesen hat, wären die letzten Monate der Promotion zur Qual geworden - eine Rettung. Zu Dank verpflichtet bin ich auch den GewerkschaftssekretärInnen, Betriebsräten und Beschäftigten, die sich für Interviews und Gruppen-diskussionen zur Verfügung gestellt haben. Mein Blick mag sie zu Beforschten gemacht haben, er ist aber einer kritischen Wissenschaft und Public Sociology verpflichtet, die zur Selbstaufklärung der Subalternen, zur Vergrößerung ihrer solidarischen Handlungsfähigkeit und so vermittelt zu ihrer Emanzipation beitragen möchte. Besonderer Dank gilt natürlich der Hans Böckler Stiftung, die diese Studie überhaupt erst durch ein Stipendium (und einen Druckkosten-zuschuss) möglich gemacht hat. Sehr wichtige Anregungen und Kor-rekturen verdanke ich meinen Betreuern Prof. Dr. Klaus Dörre und Prof. Dr. Stephan Lessenich. Mein Dank gilt auch dem Doktorandenseminar am Lehrstuhl für Arbeits- und Industrie- und Wirtschaftssoziologie der Uni-versität Jena. Die Schwächen meiner Untersuchung habe natürlich nur ich zu verantworten. Widmen möchte ich dieses Buch meiner Mutter, der ich viel verdanke, und meinem Sohn Enno, der die Bedeutung meiner Arbeit immer wieder kreativ-lebendig relativiert hat und auf mich leider öfter verzichten musste als mir lieb war.
Berlin, im Juni 2015
Thomas E. Goes
Einleitung
"Der Gedanke an Glück, an Lust, an Unabhängigkeit - mit dem Imago langhaariger Jugend, die sich dem Druck der Leistungszwänge nicht beugt und noch Konsumhaltungen negiert, neuerdings assoziativ verknüpft - wird dem unerträglich, der sich insgeheim als den immer ums Glück Betrogenen weiß. []. Kleine Leute erfahren sich als austauschbar, jederzeit ersetzbar: Auf den Einzelnen kommt es nicht an. Dies ist der qualitative Gehalt der Disponibilität, die der Kapitalverwertungsprozess ihnen abfordert." (P. Brückner)
"Die Widersprüche sind unsere Hoffnung." (B. Brecht)
1998 wurde im Universitätsverlag Konstanz ein dünnes Bändchen veröf-fentlicht, das neoliberalismuskritische Wortmeldungen des französischen Soziologen Pierre Bourdieu versammelt. In der darin enthaltenen Rede "Prekarität ist überall" stellt Bourdieu eine herrschafts- und konfliktsozio-logische Diagnose, die innerhalb der sich in den Folgejahren entwickelnden deutschen Prekarisierungsdebatte weithin Widerhall finden sollte: Mit der Ausweitung unsicherer und ungeschützter Arbeitsver-hältnisse entsteht eine Prekarität, die für die Betroffenen zu zukunfts- und erwerbsbiogra-fischer Planungsunsicherheit führt (Bourdieu 1998b: 97). Die Menschen werden permanent verunsichert, eine "kollektive Mentalität der Angst" ist die Folge. Auch Lohnabhängige, die nicht prekär arbeiten und leben, sind indirekt von Prekarisierung betroffen. Massenerwerbslosigkeit und prekäre Arbeitsverhältnisse führen ihnen vor Augen, dass sie ersetzbar sind. Pre-karität strahlt so verunsichernd aus (ebd.: 97-98). Deklassierungsängste verbreiten sich. Auch die Werte der Solidarität zwischen den abhängig Be-schäftigten werden durch diesen breiten Prekarisierungsstrom in Mitleiden-schaft gezogen (ebd.: 99), die Konkurrenz zwischen den Lohnabhängigen verschärft sich. Prekarität ist daher als Teil einer neuartigen Herrschafts-form zu begreifen (ebd.: 100), die die abhängig Beschäftigten angesichts ihrer Angst vor der sozialen Deklassierung den nun noch mächtigeren Be-schäftigern ausliefert. Mit Blick auf die Lohnabhängigen diagnostiziert Bourdieu gar, dass sie eine Disposition zur Unterwerfung entwickeln, die sie dazu veranlasst, ihre Ausbeutung hinzunehmen (ebd.: 100-101). Kol-lektive Gegenwehr, so die pessimistische Schlussfolgerung, wird innerhalb dieses Herrschaftsregimes unwahrscheinlich (ebd.: 98-99). Düstere Aus-sichten also für solidarisches Interessenhandeln prekärer und prekarisierter Beschäftigter - einerseits.
Im gleichen Sammelband findet sich allerdings ebenfalls der kurze Text "Der Mythos der Globalisierung und der europäische Sozialstaat" (Bourdieu 1998a), in dem Bourdieu sich beiläufig mit der Frage beschäftigt, aus welchen Quellen der soziale und politische Widerstand gegen die neoliberale Reformierung der Gesellschaft, deren zentrales Moment Pre-karisierung und Prekarität sind, schöpfen kann. Zentral sind für Bourdieu in diesem Kontext die - in diesem Text staatlich vermittelten - tradierten (Rechts-)Ansprüche, mit denen Menschen neoliberalen Reformen begeg-nen und sie beurteilen. Am größten ist der Widerstand der Menschen ge-gen den Neoliberalismus seiner Ansicht nach in Gesellschaften, die über eine ausgeprägte staatliche Tradition verfügen (ebd.: 42). Denn dieser Staat sei nicht lediglich ein (repressiv wirkendes) Institutionengefüge, er existiere zudem "[] in den Köpfen der Arbeiter in Gestalt subjektiver Rechts-ansprüche (das ist mein gutes Recht, das kann man mit mir nicht machen), als Verbundenheit mit sozialen Errungenschaften" (ebd.: 43).
Bourdieu thematisiert hier en passant sozialmoralische Gerechtigkeits- und Sittlichkeitsempfindungen (mein gutes Recht, das kann man mit mir nicht machen), die in der Vergangenheit entstanden sind und in der Ge-genwart fortwirken. Wenngleich Bourdieu diese Gerechtigkeitsvorstellun-gen und Ansprüche lediglich mit sozialen Errungenschaften in Verbindung bringt, die in der Vergangenheit durch staatliche Politik organisiert wurden, besteht theoretisch kein Anlass für diese Beschränkung. Auch durch die Betriebs- und Tarifpolitik im Rahmen der industriellen Beziehungen beispielsweise entstanden soziale Errungenschaften (z.B. Urlaubsansprüche oder Lohnhöhen), die sich auf die Gerechtigkeits- und Normalitätserwar-tungen, die als sozialmoralische Referenzpunkte dienen, auswirkten. Gera-de in diesen sozialmora…
Tief- preis