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Schriften aus dem MPI für Gesellschaftsforschung
Ideen und Interessen sind untrennbar miteinander verbunden. Sascha Münnich belegt dies am Beispiel des Entstehungsprozesses der Arbeitslosenversicherung in Deutschland und den USA. Der Autor zeigt, dass auch vermeintlich rein materiell orientierte Akteure, wie Gewerkschaften und Unternehmer, Ideen brauchen, um ihre Interessen am Arbeitsmarkt zu erkennen. Die Entstehung des modernen Wohlfahrtsstaates lässt sich deshalb nicht erklären, ohne zugleich ökonomische und kulturelle Faktoren einzubeziehen. Eine detaillierte Analyse historischer Quellen zwischen 1900 und 1935 belegt dieses Zusammenspiel ökonomischer und diskursiver Entwicklungen in der Arbeitsmarktpolitik. Ausgezeichnet mit der Otto-Hahn-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft (MPG)
Autorentext
Sascha Münnich ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln.
Leseprobe
Kapitel 1 Interessen und Ideen in der Entstehung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen In diesem Kapitel wird ein konzeptioneller Rahmen für das Zusammenspiel von Ideen und Interessen in der Entstehung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen entworfen. Dabei ist es zunächst notwendig, im ersten Abschnitt eine kurze Diskussion der Modelle der Entstehung und des Wandels von Institutionen voranzustellen, die für die Analyse des Wohlfahrtsstaates bisher prägend waren. Die Betrachtung dieser Ansätze wird zeigen, dass die Frage nach der Rolle der Akteure, ihrer Ideen und Interessen immer stärker ins Zentrum rückt. Obwohl Institutio nen und Strukturen die Interessen und Ideen der Beteiligten beeinflussen so die Argumentation , ist doch die Motivation des einzelnen politischen Akteurs jenseits der umgebenden Institutionenstruktur der konzeptionelle Ort, an dem Ideen und Interessen verankert werden sollten ganz im Sinne des akteurzen trierten Institutionalismus (Mayntz/Scharpf 1995). Es ist daher nötig, das Wechselspiel von Institution und Akteurorientierung zu analysieren. Zugleich darf dabei die Frage nach den strukturellen Bedingungen des Akteurhandelns nicht vergessen werden. Als konzeptionelle Lösung wird hier eine historische Perspektive vorgeschlagen. Interessen und Ideen sind in dieser Arbeit die bestimmenden Elemente des politischen Handelns jenseits von Institutionen und werden daher nacheinander betrachtet, um zu einem gemeinsamen Analyserahmen zu kommen. Daher folgt im zweiten Abschnitt eine Diskussion des Interessenbegriffs, in der in Aus einandersetzung mit der Literatur zwei Grundüberlegungen dieser Arbeit entwickelt werden: Erstens können Interessen als abstrakte, allgemeinere Orientierungen verstanden werden oder als konkretisierte situative Ziele. Zweitens können Interessen als kulturell begrenzt oder aber kulturell konstruiert verstanden werden. Im dritten Abschnitt werden dann die Ideen selbst im Vordergrund stehen. Sie werden als normative und kognitive Wissensbestände defi niert und in der kaum mehr zu überblickenden Literatur zur Rolle von Ideen im politischen Prozess verankert. Es wird sich zeigen, dass die Wirkung von Ideen genau an dem Übergang zwischen abstrakten und konkreten Interessen verortet werden kann. Ideen haben eine doppelte Wirkung auf Interessen: Gerade dadurch, dass sie die Konstruktion konkreter Präferenzen ermöglichen, begrenzen sie andere potenziell interessenrelevante Optionen. Dann werden aus einem erweiterten Interessenmodell zwei für die empirischen Fragen dieser Arbeit zentrale Überlegungen abgeleitet: Erstens ist Ideenwandel eine mögliche Quelle von Interessenwandel, wenn die objektiven Kontextbedingungen für eine Neuorientierung ebenfalls gegeben sind. Zweitens können Ideen partielle gemeinsame Identitäten zwischen ansonsten konfl igierenden Parteien stiften. 1.1 Institutioneller Wandel in Wohlfahrtsstaaten Die Nullhypothese der Frage nach der Entstehung der modernen kapitalistischen Wohlfahrtsstaaten bildete in den Sozialwissenschaften der Nachkriegszeit die Sichtweise, wonach die Expansion sozialer Rechte eine evolutionäre Folge des wirtschaftlichen Wachstums und der politischen Demokratisierung sei (Kerr et al. [1960]1973). Bei T. H. Marshall ([1963]1965) erwuchs in einem evolutionären Dreischritt aus den wirtschaftlichen Bürgerrechten im 18. Jahrhundert zunächst die Ungleichheit der politischen Partizipation. Die daraufhin folgende Herausbildung gleicher politischer Partizipationsrechte in der Demokratie des 19. Jahrhunderts eröffnete den Blick auf die soziale Ungleichheit am Beginn des 20. Jahrhunderts. In Marshalls Typisierung ist der Wohlfahrtsstaat der Höhepunkt der Entwicklung gleicher nun auch sozialer Bürgerrechte, entstanden durch ständige Bekämpfung und Neuerrichtung ungleicher gesellschaftlicher Statusordnungen (ebd.: 96). Der Wohlfahrtsstaat erscheint so als notwendige Folge der wachsenden Industrialisierung und Demokratisierung in allen kapitalistischen Gesellschaften (Fischer 1979: 93; Flora/Heidenheimer 1981: 22ff.; Luhmann 1981). Sozioökonomische Modernisierungsprozesse, das heißt, Industrialisierung, Urbanisierung und Bürokratisierung sowie politischer Fortschritt, etwa die Ausweitung des Wahlrechts und des Parlamentarismus, werden in ihrem Zusammenspiel betrachtet, um die Entstehung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen zu erklären (Pierson 1991: 102ff.; Flora/Alber 1981: 38). Auch die marxistisch inspirierte Politische Ökonomie nimmt diesen evolutionären Gedanken auf und wendet ihn funktionalistisch: Im Anschluss an Marx und Polanyi wird die Entstehung des Wohlfahrtsstaates aus der Notwendigkeit für jede kapitalistische Gesellschaft hergeleitet, den unausweichlichen Krisentendenzen der kapitalistischen Produktionsweise ein stabilisierendes Element entgegenzusetzen (Offe 1975: 19; Schäfer 2008). Die Arbeitslosenversicherung ist aus Sicht dieser Theorie in erster Linie ein funktional notwendiger »Quantitätsregler « (Lenhardt/Offe 1977: 107), der in Krisenzeiten Teile der Arbeitskraft aus dem Arbeitsmarkt herausnimmt (Dekommodifi zierung), sich aber den regulativen Zugriff bewahrt, diese in besseren Wirtschaftsphasen wieder auf den Markt zurückzuzwingen (Rekommodifi zierung). Die Gemeinsamkeit aller moder nisierungstheoretischen wie funktionalistischen Ansätze ist die kausale Bindung der Wohlfahrtsstaatsentstehung an gesellschaftlichen Entwicklungslinien auf der Makroebene, die die konkreten Handlungsweisen der Akteure bestimmen und so zu sekundären Erklärungsfaktoren machen (Alber 1981: 155). Die Tatsache, dass die Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen in den verschiedenen kapitalistischen Demokratien erheblich differiert, hat spätestens seit Ende der 1970er-Jahre eine Neuorientierung zugunsten der Betonung der Divergenz nationaler Institutionenlandschaften provoziert. Es bildeten sich drei Erklärungsansätze heraus, die nun nicht mehr die Imperative der demo kratischen kapitalistischen Gesellschaft insgesamt im Blick hatten, sondern historisch spezifi sche politische Interessenkonstellationen identifi zierten, die hinter der Durchsetzung sehr unterschiedlich ausgestalteter wohlfahrtsstaat licher Regelungen standen. Wohlfahrtsstaatliche Institutionen entstehen demnach nur dann, wenn sich entsprechende politische Interessen durchsetzen. Zur Erklärung na tio naler Unterschiede ziehen diese Erklärungsansätze die organisatorische Struktur der wirtschaftlichen Produktion und Verteilung, die politischen Spielregeln sowie die historische Stärke der Arbeiterbewegung heran. 1.1.1 Erklärungsfaktoren für die Entstehung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen Die erste der drei Erklärungsvarianten, der Machtressourcenansatz, weist auf die Interessen der organisierten Arbeitnehmerschaft und ihrer Vertretung durch die Sozialdemokratie als entscheidenden Einfl ussfaktor hin. Verschiedene Arbeiten haben die Entstehung der Wohlfahrtsstaaten aus der historischen Stärke der Sozialdemokratie und ihrer potenziellen Bündnispartner hergeleitet (Esping-Andersen 1985; Korpi 19…
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