Tiefpreis
CHF38.35
Auslieferung erfolgt in der Regel innert 1 bis 2 Wochen.
Kein Rückgaberecht!
Schriften aus dem Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln
Gerichte treffen politische Entscheidungen. Folglich kann Rechtsprechung als politischer Prozess untersucht werden, in dem Interessen, Ideen und Machtressourcen eine Rolle spielen. Britta Rehder untersucht den Beitrag des Bundesarbeitsgerichts zur Entstehung und Entwicklung des deutschen Tarifrechts und illustriert, wie sich zentrale Rechtsnormen im historischen Zeitverlauf wandeln und mit welchen Mitteln dieser Wandel initiiert und durchgesetzt wird.
Autorentext
Britta Rehder war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln, und ist heute Professorin für Politikwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum.
Leseprobe
Kapitel 1 Einleitung Das vorliegende Buch untersucht aus politikwissenschaftlicher Perspektive den Beitrag von Arbeitsrechtsexperten und der Arbeitsgerichtsbarkeit zur Entstehung und Transformation des deutschen Tarifrechts. Im Zentrum steht die historische Entwicklung einer spezifi schen Rechtsnorm, die für das kollektive Arbeitsrecht von großer Bedeutung ist und sehr oft umstritten war. Dabei handelt es sich um das sogenannte Günstigkeitsprinzip (§ 4 Abs. III TVG). Es besagt, dass Arbeitsverträge oder andere arbeitsrechtliche Vereinbarungen in tarifgebun denen Unternehmen dann vom geltenden Tarifvertrag abweichen dürfen, wenn sie für den betreffenden Arbeitnehmer günstiger sind als die tarifliche Regelung. Diese Rechtsnorm existiert seit circa einhundert Jahren und ist damit so alt wie das Tarifrecht selbst. Dabei haben sowohl die Tarifvertragsverordnung von 1918 als auch das Tarifvertragsgesetz von 1949 die Frage offengelassen, in welchen konkreten Konstellationen sie gilt oder wann eine Regelung günstiger ist als eine andere. Die Beantwortung dieser Fragen wurde stets an die Praxis und die Gerichte delegiert. Mit ihrer Definition und deren Interpretationsoffenheit ist zugleich die Brisanz der Rechtsnorm angedeutet, denn der Geltungsbereich des Günstigkeitsprinzips entscheidet mit über den Geltungsbereich von Tarifverträgen. Eine großzügige Auslegung des Günstigkeitsgedankens schwächt die Präge- und Regulierungskraft von Tarifverträgen. Ein enges Verständnis sichert ihre Dominanz. Damit ist die Entwicklung des Günstigkeitsprinzips ein Gradmesser für den Zentralisierungs- oder Liberalisierungsgrad des deutschen Kapitalismus. Zudem signalisieren Modifikationen im Verständnis des Günstigkeitsprinzips einen Wandel in der Governance-Architektur der Tarifpolitik. Eine weitreichende Erlaubnis, von geltenden Tarifstandards abzuweichen, impliziert gleichzeitig einen wachsenden politischen Gestaltungsspielraum für die betrieblichen Akteure im Rahmen des Mehrebenensystems der Tarifpolitik. Also ist die Entwicklung dieser Rechtsnorm sowohl in der Policy- als auch in der Polity-Dimension interessant für die Debatte über die Entwicklung der industriellen Beziehungen und des koordinierten Kapitalismus in Deutschland. Ein zentralisiertes Lohnverhandlungssystem stellt den Anspruch, die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten kollektivrechtlich und überbetrieblich zu regeln, zum Beispiel durch einen Flächen- oder Verbandstarifvertrag. Legitimiert wurde und wird die Zentralisierung mit den Funktionen, die sie erfüllt (Müller-Jentsch 1997: 191192). Der Arbeitnehmerseite sollen Tarifverträge zur Dekommodifi zierung ihrer Arbeitskraft dienen. Es wird argumentiert, dass die Asymmetrie zwischen Kapital und Arbeit am Arbeitsmarkt nur dadurch nivelliert werden könne, dass die Beschäftigten der Arbeitgeberseite als Kollektiv gegenübertreten. Gewerkschaften sollen Kollektivvereinbarungen aushandeln, die den Beschäftigten ein Mindestlohnniveau gewährleisten und sie vor Ausbeutung schützen (Schutzfunktion). Darüber hinaus wurden dem Flächentarifvertrag immer auch eine Reihe ordnungspolitischer Funktionen zugeschrieben. Zentralisierte Vereinbarungen ordnen den Arbeitsmarkt durch die Festlegung der Relationen zwischen Lohn, Produktivität und Leistung. Die Standardisierung von Löhnen und Arbeitsbedingungen soll den Arbeitsmarkt vor Konkurrenz schützen und die Planungssicherheit der Betriebe gewährleisten (Ordnungsund Kartellfunktion). Zudem sollen im Zuge der überbetrieblichen Aushandlung von Löhnen Konfl ikte aus der betrieblichen Sphäre ferngehalten werden (Befriedungsfunktion). Die Wertschätzung von Tarifverträgen schwankte im historischen Zeitverlauf stark. Immer wieder wurden die Fragen diskutiert, ob sie die ihnen zugedachten Aufgaben erfüllen können oder sollen und wenn ja, in welcher Weise. Die Antworten beeinfl ussten auch die Debatte über das Günstigkeitsprinzip. Stieg das Interesse an der kollektiven Regulierung der Arbeitsbeziehungen, wuchs gleichzeitig das Bedürfnis, den Raum für individuell günstigere Vereinbarungen zu begrenzen und umgekehrt. Darüber hinaus gab es immer auch prinzipielle Einwände gegen das Tarifrecht. Die individuelle Vertragsfreiheit ist eine der zentralen Rechtsnormen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Tarifverträge schränken die individuelle Vertragsfreiheit ein, um die oben genannten, kollektiv ausgerichteten Funktionen bereitstellen zu können. Dadurch grenzt sich das Arbeitsrecht gegen das Privatrecht ab. Der Günstigkeitsgedanke legt nun fest, unter welchen Bedingungen die individuelle Vertragsfreiheit im kollektiven Arbeitsrecht dennoch rechtlich zulässig ist. Er ist also ein potenzielles Einfallstor des Privatrechts in das Arbeitsrecht. Dadurch wurde er auch zum Schauplatz der Auseinandersetzungen zwischen einem kollektivistischen und einem liberalen Rechtsdenken, die im Zentrum dieses Buches stehen. Die grundlegende These der Arbeit lautet, dass eine organisations- und institutionenübergreifende epistemische Gemeinschaft aus Arbeitsrechtsexperten in der Wissenschaft, in den Gewerkschaften, in den Arbeitsgerichten, in den politischen Parteien und in der Arbeitsverwaltung für die Etablierung und Dominanz des kollektivrechtlichen Prinzips (und damit gegen einen weit verstandenen Geltungsbereich des Günstigkeitsprinzips) kämpfte. Dabei war sie in verschiedenen Phasen unterschiedlich erfolgreich. Sie scheiterte in der Weimarer Republik. In der Nachkriegszeit gelang es ihr hingegen, den Vorrang des Kollektivprinzips durchzusetzen. Das Günstigkeitsprinzip wurde eingedämmt. Die epistemische Gemeinschaft der Arbeitsrechtler leistete damit einen zentralen Beitrag zum Aufbau des koordinierten Kapitalismus in Deutschland, indem sie die Regelungshoheit der Tarifverbände rechtlich absicherte. Seit dem Ende der 1960er Jahre nahmen die Liberalisierungstendenzen zu. In diesem Zusammenhang wuchs auch der Druck, dem Günstigkeitsgedanken und damit der individuellen Vertragsfreiheit im Arbeitsrecht mehr Raum zu geben. Wiederum spielten die Arbeitsrechtsexperten eine zentrale Rolle, weil sie sich den Liberalisierungstendenzen entgegenstemmten. Ihre wichtigste institutionelle Ressource war dabei die Kontrolle über die Arbeitsgerichtsbarkeit. Sie konnten den Liberalisierungspfad zwar nicht stoppen, sie konnten ihn (bisher) aber lenken und begrenzen. Damit unterstützten sie den Erhalt des Tarifsystems in Deutschland maßgeblich. Gleichwohl hat die Fähigkeit, das kollektive Arbeitsrecht vor dem Einbruch des Vertragsrechts zu schützen, im Zeitverlauf stark abgenommen. Die vorliegende Arbeit möchte die Bedingungen des Erfolgs und des Niedergangs der epistemischen Gemeinschaft herausarbeiten. Aus dem Gesagten geht bereits hervor, dass das Buch einen Zeitraum von einhundert Jahren in den Blick nimmt, der sich von den Auseinandersetzungen um die Defi zite des BGB im ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart erstreckt. Dazwischen lagen zwei Weltkriege und drei Regimewechsel. Das Tarifrecht im Allgemeinen und das Günstigkeitsprinzip im Besonderen überlebten sie mehr oder weniger alle, wenn auch immer wieder in gewandelter Form. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Entwicklung nach 1945. Gleichwohl ist ein Rück…
Tief- preis