

Beschreibung
Was wäre, wenn dich alle für tot hielten - und du noch mal neu anfangen könntest? Kannst du es wirklich? Die gefeierte Filmikone Jeanne Patou erfährt aus dem Fernsehen, dass sie für tot gehalten wird. Für Jeanne ist es die Chance, unterzutauchen und so ihrem E...25 Kunden haben diesen Artikel kürzlich gekauft.
Was wäre, wenn dich alle für tot hielten - und du noch mal neu anfangen könntest? Kannst du es wirklich?
Die gefeierte Filmikone Jeanne Patou erfährt aus dem Fernsehen, dass sie für tot gehalten wird. Für Jeanne ist es die Chance, unterzutauchen und so ihrem Ehemann zu entkommen, der gleichzeitig ihre größte Obsession und ihre fatalste Leidenschaft ist. Sie verschwindet in die Anonymität - und in einen Kosmos der untergetauchten Frauen, mit denen sie ein altes Haus in Barcelona bewohnt. Während sie ihre Schicksale kennenlernt, wird ihr auch ihr eigenes immer deutlicher.
Viereinhalb Jahre später streift Jeanne über die La Rambla, eine Passantin unter vielen, als sie plötzlich ihrem Mann begegnet. Ihr ist klar: Sie muss sich stellen - ihrem Mann, aber vor allem sich selbst.
Die Passantin ist ein empathischer, rasanter und zorniger Roman über eine Selbstfindung, eine Starkwerdung, eine Emanzipation, ein Auftauchen aus festgefahrenen Strukturen, um zum wahren Kern zurückzufinden.
Autorentext
Nina George (*1973) ist Schriftstellerin, Journalistin, Übersetzerin und Moderatorin. Ihr Roman Das Lavendelzimmer wurde in 36 Sprachen übersetzt und war u. a. ein New-York-Times-Bestseller und Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhandlungen der USA. Gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Schriftsteller Jens J. Kramer, schreibt Nina George außerdem Kinderbücher. Für ihr literarisches Werk sowie ihr kulturpolitisches Engagement, u. a. als politische Beauftragte des European Writers' Council, als Gründerin des Netzwerks Autorenrechte und als Initiatorin der Initiative #frauenzählen, wurde Nina George als BücherFrau des Jahres ausgezeichnet und erhielt das Bundesverdienstkreuz. Nina George lebt in Berlin und in der Bretagne. www.ninageorge.de
Leseprobe
2019
Eben ist mein Mann an mir vorbeigegangen. Auf der La Rambla, er mochte Barcelona eigentlich nie, und die Frau an seiner Seite studierte konzentriert die Schaufensteraus- lagen der geschlossenen Läden, während er sie am Ellenbogen mit seiner weichen Hand unerbittlich weiterführte. Mein Mann hielt die Frau fest und starrte jedem, der mit einer Estelada-Flagge Richtung der Basilika Sagrada Família hastete, mit saurer Verachtung ins Gesicht.
In der Ferne das Geräusch hochdrehender Motoren der Wasserwerfer, die die Innenstadt einkesselten. Brandgeruch.
Mein Mann sah mich an, als er an mir vorbeiging, und ich ihn, flüchtig, vage, eine Passantin im wachsenden Strom der Demonstranten. Er hatte mich nicht erkannt, oder vielleicht doch, und sich gesagt, dass es nicht sein konnte, denn schließlich war ich seit viereinhalb Jahren tot.
2015
Jeanne Patou sitzt am Tresen der Bar Central in der La Boqueria Markthalle. Niemand sieht sich nach ihr um, niemand erkennt sie. Niemand erwartet, dass jemand wie sie sich an Orten materialisiert, wo sonst nur normale Leute hingehen und es nach Tapas, Bier und warmem Fett riecht. Als hätten berühmte Menschen wie Jeanne eine andere Welt nur für sich zur Verfügung.
Ich habe es mir angewöhnt, über mich als »Jeanne« zu denken. Ich ist eine andere. Ich trage einen anderen Namen, aber ich bin längst getilgt, aufgegangen in der Rolle der Patou. Es ist, als beobachtete ich Jeanne von jenseits der Haut, die wir uns teilen. Ich sehe ihr zu, wie sie trinkt, und wir reden nicht miteinander, schon lange nicht mehr.
Jeanne trinkt Rotwein, neben ihrem Barhocker steht ihr kleiner Rollkoffer. Sie hat Pata Negra, Croquetas de Jamón und heiße, knusprige Churros bestellt, die sie nicht anrührt. Sie bleibt beim Rotwein, ein Tempranillo, so trocken, dass er ihr in den Gaumen sticht. Zu früh für den Tag, genau rechtzeitig für den Schmerz, den sie empfindet. Luc nennt sie den Schmerz, aber Luc ist nur das Dekor. Es ist ein Schmerz, der aus den Sedimenten ihres Seins quillt. Eine unendliche Müdigkeit, zäh, träge, klebrig. Jeanne will hier nur noch sitzen und das Weinglas in den Fingern drehen. Dieser unglaubliche Widerwille, weiterzugehen.
Es birst vor Farben und Überfluss im Bauch von Barcelona. Dutzende von der Decke hängende Serrano- und Pata-Negra-Schinken, überquellende Tische mit Früchten, Gemüse, Regale voller Weinflaschen. Mallorquinischer Hierbas, spanischer Sherry, Brandy und Cava. Nassglatte Fische, Kraken, Krebse, Hummer. Es summt von Stimmen, die TV-Bildschirme, die in den Hallengängen hängen, erzählen Neues aus der Welt.
Die spanischen Nachrichten berichten im Liveticker, dass im US-Bundesstaat Utah die Todesstrafe durch Erschießen mit dem Gewehr vollstreckt werden kann, sofern kein Giftstoff zum Spritzen vorrätig sei. Die Weigerung europäischer Chemikalienhersteller zur Lieferung von Todesspritzen hätten wiederholt zu Verzögerungen geführt. Und jetzt zum Wetter. Jeanne dreht das Rotweinglas in den Fingern, und erst als sie wieder einen Schluck nimmt, da fällt es ihr auf. Niemand schaut mehr woanders hin als zu den Fernsehbildschirmen, an jedem Tresen in der Markthalle. Das Reden der zeitig gekommenen Einkäufer ist verstummt, niemand wagt es mehr, Geräusche zu machen. Hände haben sich über Münder gelegt. Stille senkt sich über die zweihundertfünfzig Stände, und an jedem Ende der Markthallengänge sind die acht Quadratmeter großen TV3-Displays randvoll gefüllt mit verwaschenen Bildern eines verheerend zerstörten Flugzeugwracks. Jeanne stellt das Rotweinglas auf den Tresen. Vorsichtig. Leise. Der Wirt dreht den Ton seines Fernsehers über dem Tresen lauter. Unterbrechung des Programms, Eilmeldung. Ein Flugzeugabsturz in den südfranzösischen Alpen. Germanwings Flug 4U9525 ab Barcelona. Alle einhundertvierundvierzig Passagiere und die Crew tot. Zwei Opernsänger, sechzehn Schülerinnen und Schüler aus Haltern am See, einundfünfzig Spanier. Und Jeanne Patou, die gefeierte, bepreiste, geliebte Film- und Theaterschauspielerin. Eine Ikone.
Ich bin tot?, denkt Jeanne, die am Vorabend eingecheckt hat, online. Ein Rollkoffer, schnell rein, schnell raus. Ich bin tot? Aber, ja, da steht es, auf Spanisch, Jeanne Patou unter den Opfern, und: Tragödie. Tragödie ist, denkt Jeanne, als sie ein Foto von ihr einblenden, übergroß und überirdisch schön, dass die berühmten Namen all den anderen die Einzigartigkeit ihres Todes stehlen. Und für einen schwebenden Moment glaubt sie es. Dass sie tot ist, aber es selbst nicht bemerkt hat.
Sie zeigen Wrackteile im Fernsehen und dieses ikonische Bild von Jeanne. In der Rolle der Lulu, sie war Mitte dreißig. Vor zehn Jahren, ein schönes Bild, eine perfekte Illusion. Die Leute vom spanischen Sender haben einen schwarzen Rahmen darum gesetzt. Das Licht fällt auf Jeannes Stirn, betont ihre Wangenknochen, ihr Blick ist nach oben gewendet, als würde sie beten und gleichzeitig hilflos der Verehrung ausgesetzt sein, unfähig, sich selbst zu begreifen, unfähig, ihre Macht zu erkennen. Auch das besitzt etwas Religiöses, Enthobenes. Das gute alte Top Lighting. Jeannes Gedanken werden jählings zornig, laut. Schon immer selektieren Männer nur wenige Frauen und erheben sie aus der Menge an Vaginen, denkt Jeanne; Männer entwerfen eine neue Skizze von ihr, setzen das Studiolicht auf ihre Stirn wie der heiligen Maria, und erst dann ist sie kein Miststück mehr, nicht mehr »wie die anderen Frauen«. Diese erhobene Frau hernach für diese Männer weiter arbeiten zu lassen, damit die Selektierte zufrieden ist und andere Frauen kleinhalten will, die es von selbst schaffen wollen und ihr den Platz streitig machen: Das ist die Macht der Männer. Eifersüchtige Äffinnen im Käfig zu erschaffen. Jeanne drückt fest mit beiden Händen auf ihre Schläfen. Als hätte das je genutzt, diese Gedanken zu dämpfen. Die Wut, die sie mit sich trägt, ist gewachsen und so alt wie sie selbst. Die Wut, selbst jetzt, im Tod, schön und jung präsentiert zu werden. Der Sender blendet François Hollande ein. Für einen Moment wird Jeannes' unwirklich schönes Bild kleiner, und der gut frisierte französische Staatspräsident gibt eine Erklärung ab. Er ist erschüttert. Stammelt angemessen. Wegen allem, au…
