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Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts
Der Jurist Henry Ormond, der 1950 in Frankfurt am Main eine Kanzlei eröffnete, vertrat als Rechtsanwalt viele Überlebende des Holocaust in prominenten Prozessen. Seine Plädoyers sind historische Lehrstücke in beinahe literarischer Qualität. Diese Quellensammlung ist ein Lesebuch zur bundesdeutschen Rechtsgeschichte: Sie stellt einen jüdischen Rückkehrer vor, dessen Biografie einzigartig und gleichzeitig typisch für die deutsche Nachkriegsgeschichte ist.
Autorentext
Katharina Rauschenberger, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Programmkoordinatorin am Fritz Bauer Institut. Werner Renz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fritz Bauer Institut.
Leseprobe
Einleitung
Katharina Rauschenberger, Werner Renz
Henry Ormond (1901-1973) war in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts einer der erfolgreichsten Frankfurter Anwälte sowohl im Bereich des Wiedergutmachungs- und Rückerstattungsrechts als auch auf dem Feld des Strafrechts in Prozessen wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen.
Seine Biographie ist jedoch nur wenigen bekannt. Seine persönlichen Erfahrungen besonders mit dem Antisemitismus in der Zeit des Nationalsozialismus, aber auch sein Leben im englischen Exil und nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik haben sein anwaltliches Engagement für NS-Opfer und seine Rechtsauffassungen entscheidend geprägt.
Diese biographische Skizze soll dazu beitragen, die im vorliegenden Band dokumentierten Plädoyers Ormonds, gehalten in drei ausgewählten Verfahren, historisch zu kontextualisieren. Die den Plädoyers und den Repliken vorangestellten Einführungen der Herausgeber legen sodann Ormonds Rolle in den einzelnen Prozessen dar.
Als Hans Ludwig Jacobsohn kam Ormond am 27. Mai 1901 in Kassel zur Welt. Sein Vater Alex Jacobsohn war Getreidegroßhändler, die Mutter Amalie die Tochter eines Mannheimer Seifenfabrikanten. Die Eltern waren Juden, doch scheint die Religionsausübung im Elternhaus keine große Rolle gespielt zu haben. 1906 starb der Vater. Die Mutter kehrte daraufhin mit dem kleinen Jungen in ihre Heimatstadt Mannheim zurück und sorgte dafür, dass Hans aus der jüdischen Gemeinde austrat und in die Freireligiöse Gemeinde Mannheim aufgenommen wurde. Die freireligiösen Gemeinden waren ein ökumenischer Glaubenszusammenschluss, der sich Mitte des 19. Jahrhunderts als Antwort auf unflexible Strukturen in der katholischen und evangelischen Kirche gebildet hatte. Viele aufgeklärte Christen und Juden, die im 19. Jahrhundert nach einer religiösen Orientierung suchten, schlossen sich den freireligiösen Gemeinden an. Sie vertraten einen liberalen Pantheismus, der als Sammelbecken für viele unspezifische Glaubensansätze anziehend wirkte. Man kann also davon ausgehen, dass Ormond zwar nicht jüdisch, aber auch nicht areligiös erzogen wurde.
1908 starb auch Ormonds Mutter an einer Typhusinfektion. Hans wurde von seiner Tante Karoline Luise und seiner Großmutter Jeanette großgezogen. Die Tante adoptierte ihn 1920 und gab ihm ihren eigenen Namen, Oettinger, der auch der Mädchenname der Mutter gewesen war. Ihr, einer zeitlebens unverheiratet gebliebenen, behinderten Frau, fühlte sich Ormond sehr verbunden, und er unterstützte sie in späteren Jahren, so gut er konnte, finanziell. Zwischen 1907 und 1910 besuchte er die Bürgerschule, dann das Karl-Friedrich-Gymnasium in Mannheim, wo er 1919 Abitur machte. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs war Hans 13 Jahre alt und leicht für Deutschlands Kriegserklärung zu begeistern. Später schilderte er, wie sehr er es bedauert habe, zu jung für einen aktiven Militärdienst gewesen zu sein.
Ab 1919 studierte Hans Oettinger Rechtswissenschaften an den Universitäten Heidelberg und Berlin. Nach der ersten Staatsprüfung 1923 durchlief er im juristischen Vorbereitungsdienst verschiedene Stationen am Amts- und Landgericht in Mannheim, aber auch bei einem dortigen Rechtsanwalt, beim Notariat und bei der Polizeidirektion sowie in der Amtsanwaltschaft Pforzheim. Seine Neigung galt jedoch der Justiz, bei der er nach dem zweiten juristischen Staatsexamen 1926 bis auf ein Jahr Unterbrechung permanent beschäftigt war. In jenem Jahr, 1927, nämlich ließ er sich beurlauben, um bei der Rheinischen Treuhand-Gesellschaft AG in Mannheim als Syndikus zu arbeiten. Hier eignete er sich fundamentale Kenntnisse über die Funktionsweise eines privaten Unternehmens an. Danach kehrte er als Hilfsrichter an das Amtsgericht Mannheim zurück, 1929 war er für einige Monate Hilfsstaatsanwalt, bevor er am 1. Februar 1930 seine erste feste Stelle als Staatsanwalt in Mannheim antrat. Im November 1932 erhielt er die Ernennung zum Amtsgerichtsrat in Mannheim. Aus dieser Position wurde er am 31. Mai 1933 infolge des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums entlassen - und das, obwohl er keiner jüdischen Gemeinde mehr angehörte. Es muss einige Monate gedauert haben, bis er verstand, dass der Staat, dessen rechtstreuer Beamter er hatte sein wollen, sich nicht mehr schützend vor ihn stellen würde. Noch im Juni 1933 machte er eine Eingabe an das Justizministerium mit der Bitte um finanzielle Unterstützung und bewarb sich parallel um Stellen außerhalb des Staatsdienstes; dabei war eine Zulassung als Rechtsanwalt wegen der NS-Gesetzgebung schon nicht mehr möglich.
Hans Oettinger zog nach Frankfurt am Main, wo er eine neue Anstellung als Wirtschaftsjurist fand. Seine Ausbildung und bisherige Laufbahn waren, wie die vieler Juristen, ganz auf den Staatsdienst ausgerichtet gewesen. Nun musste er umlernen. Dabei kam ihm sicher zugute, dass er vorübergehend bei der Rheinischen Treuhand-Gesellschaft AG beschäftigt gewesen war. Von Juli 1933 bis Juni 1938 konnte er als Handlungsbevollmächtigter und Syndikus der Kohlengroßhandlung Nirmaier & Co. arbeiten. Diese Jahre schien Oettinger noch in einem geschützten Raum zu verbringen. Hugo Nirmaier war gläubiger Katholik und entschiedener Nazi-Gegner. Er schätzte die juristischen Talente und die Persönlichkeit des entlassenen Richters und übertrug ihm in der Firma Verantwortung so weit wie möglich, ohne zu sehr nach außen aufzufallen. Oettinger konnte trotz der zunehmenden Repressionen gegen Juden sogar noch Urlaubsreisen nach Madeira (1934/35) und Sizilien (1936) unternehmen sowie eine Kreuzfahrt durchs Mittelmeer machen, die ihn 1937 zum ersten Mal nach Jerusalem führte. Auf Druck des Kreiswirtschaftsberaters der NSDAP musste ihn Nirmaier 1938 jedoch entlassen. Zwar konnte er Oettinger auch nach der offiziellen Entlassung noch illegal einige Monate weiterbeschäftigen, es war aber absehbar, dass dies nicht mehr lange möglich sein würde. Oettingers finanzielle Situation wurde ab Mitte 1938 immer schwieriger. Ein Gesuch um finanzielle Unterstützung lehnte der Oberlandesgerichtspräsident in Frankfurt am Main im September "aus grundsätzlichen Erwägungen" ab. Der entlassene Jurist begann, sich auf die Emigration vorzubereiten, besuchte Englischkurse und ging einige Wochen auf die Frankfurter Dienerfachschule und Servieranstalt Kotz, um seine Arbeitschancen im Ausland zu erhöhen. Er versuchte bei verschiedenen Konsulaten, unter anderem dem venezolanischen, ein Visum zur Einwanderung zu erhalten, hatte damit jedoch zunächst keinen Erfolg.
Dann kam der Novemberpogrom 1938. Offenbar geriet Oettinger, der kein Funktionär einer jüdischen Gemeinde und auch sonst in der Öffentlichkeit nicht bekannt war, durch einen Zufall in den Fokus der Gestapo. Am 16. November 1938, wenige Tage nach dem Novemberpogrom, wurde er verhaftet, so erzählte er später, weil sein Vermieter, der eigentlich auf der Liste der Gestapo stand, krank und nicht transportfähig war. Oettinger wurde ins Konzentrationslager Dachau verschleppt. Über diese Zeit sprach er später nicht viel, jedoch ist bekannt, dass er nur überlebte, weil ein Mitgefangener ihn bei einem tagelangen Appellstehen stützte. Von diesem Appell im Ja…