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Theorie und Gesellschaft
Herausgegeben von Jens Beckert (Köln), Rainer Forst (Frankfurt), Wolfgang Knöbl (Göttingen), Frank Nullmeier (Bremen) und Shalini Randeria (Wien)
Was geht verloren, wenn Staaten zerfallen? Das Auseinanderbrechen von staatlichen Institutionen ist heute eines der drängendsten Probleme der internationalen Politik. Mit Cord Schmelzles Studie liegt nun die erste Monografie vor, die dieses Phänomen aus Perspektive der politischen Theorie und Philosophie untersucht. Ausgehend von einer Analyse der Begriffe Legitimität und Staatlichkeit entwickelt der Autor eine neuartige Theorie der Rechtfertigung von Herrschaftsverhältnissen und des Wertes staatlicher Ordnungssysteme und fragt, wie die internationale Gemeinschaft auf Fälle von Staatszerfall reagieren sollte.
»Cord Schmelzle hat eine analytisch überaus überzeugende Theorie politischer Legitimität und der humanitären Pflichten der Staatengemeinschaft vorgelegt, an der die wissenschaftliche Diskussion nicht mehr vorbeikommen wird.« Laudatio zur Verleihung des DVPW-Förderpreises 2016, Politische Vierteljahresschrift
Vorwort
Theorie und Gesellschaft
Herausgegeben von Jens Beckert (Köln), Rainer Forst (Frankfurt), Wolfgang Knöbl (Göttingen), Frank Nullmeier (Bremen) und Shalini Randeria (Wien)
Autorentext
Cord Schmelzle ist wiss. Mitarbeiter am SFB 700 »Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit« an der FU Berlin und Preisträger des Förderpreises der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft des Jahres 2016.
Leseprobe
Einleitung
Am Anfang des neuzeitlichen politischen Denkens steht das Problem der Anarchie, oder genauer gesagt: das Problem ihrer Überwindung. Drei kanonische Texte der politischen Philosophie - Hobbes' Leviathan, Lockes Zweite Abhandlung und Kants Rechtslehre - bedienen sich jeweils der Kontrastfolie eines anarchischen Naturzustands, um ihre Theorien politischer Legitimität zu entfalten und die Bedingungen anzugeben, unter denen Herrschaftsverhältnisse gerechtfertigt sind. Die genauen Konturen eines solchen Szenarios ohne Herrschaft und politische Institutionen variieren dabei zwar zwischen den Autoren, die argumentative Funktion dieser Fiktion ist jedoch in allen drei Fällen eine ähnliche: Anhand der Unsicherheit (Hobbes), der Nachteile und Unannehmlichkeiten (Locke) beziehungsweise der notwendigen Rechtlosigkeit (Kant) eines imaginierten vorstaatlichen Zustands soll nachgewiesen werden, dass Herrschaftsverhältnisse rational erforderlich (Hobbes), vorteilhaft und moralisch zulässig (Locke) oder sogar moralisch geboten (Kant) sind.
Am Anfang dieser Studie steht ebenfalls das Problem anarchischer Zustände, allerdings nicht in Gestalt der Gedankenexperimente der Ahnherren der politischen Theorie, sondern als Realität in sogenannten zerfallenen Staaten. Die Parallelen vor allem zwischen Hobbes' düsterer Vision eines von permanenter Unsicherheit geprägten Naturzustands und der Situation in Ländern wie Somalia, Afghanistan, der Demokratischen Republik Kongo oder Sierra Leone liegen dabei jedoch auf der Hand: Das Fehlen eines staatlichen Gewaltmonopols und eines funktionsfähigen Rechtssystems, die daraus resultierende Unsicherheit und Anomie sowie sich ungehindert ausbreitende Epidemien und Hungersnöte prägen oftmals das statistisch kurze und von materieller Armut geprägte Leben der Menschen in solchen "Ruinen von Staatlichkeit" (Ladwig 2007: 371). Zu den Folgen gehören der Zusammenbruch von Wirtschaft, Handel und Infrastruktur, die ständige Angst vor willkürlichen Rechtsverletzungen, Misstrauen und soziale Desintegration, die erzwungene Flucht weiter Bevölkerungsteile sowie, erschreckend häufig, ein gewaltsamer Tod. Aus diesem Grund gilt der Zerfall staatlicher Institutionen vielen Beobachtern als eine der zentralen humanitären Herausforderungen des beginnenden 21. Jahrhunderts (so etwa Helman/Ratner 1992-93; Rotberg 2003a; Collier 2007). Umso erstaunlicher ist es, dass dieses Phänomen von der normativen politischen Theorie und Philosophie bisher kaum systematisch bearbeitet wurde. Diese Forschungslücke ein Stück weit zu schließen, ist eines der Ziele dieser Arbeit.
In der vorliegenden Studie nehme ich ähnlich wie Hobbes, Locke und Kant das Problem fehlender politischer Ordnung zum Ausgangspunkt, um die Frage nach der Rechtfertigung von Herrschaftsverhältnissen und dem Wert staatlicher Institutionen erneut zu stellen. Allerdings unterscheiden sich der Ansatz und das Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung dabei in wichtigen Hinsichten von denen der Klassiker. Während die kanonischen Naturzustandstheoretiker insofern induktiv verfahren, als sie aus den Daten ihrer Gedankenexperimente eine Theorie politischer Legitimität entwickeln, wird hier andersherum, also deduktiv, vorgegangen: Auf Grundlage der klassischen und zeitgenössischen philosophischen und politiktheoretischen Literatur zum Begriff politischer Legitimität und zur Rechtfertigung von Herrschaftsverhältnissen entwickle ich im ersten Teil der Arbeit unter der Überschrift "Politische Legitimität" eine Theorie legitimer Herrschaft, mit deren Hilfe ich im zweiten Teil "Zerfallene Staatlichkeit und externe Herrschaft" das Phänomen des Zusammenbruchs staatlicher Ordnungen aus normativer Perspektive in den Blick nehme.
Zwei Fragen stehen dabei im Zentrum der Untersuchung: Erstens ist zu fragen, was genau die normative Problematik zerfallener Staatlichkeit ausmacht: Liegt sie nur in der mangelhaften Versorgung der Bevölkerung mit menschenrechtlichen Grundgütern begründet - eine empirisch verbreitete, aber begrifflich kontingente Folge zerfallener Staatlichkeit - oder ist das Fehlen verlässlicher und effektiver politischer Institutionen auch darüber hinaus problematisch? Mit anderen Worten: Lassen sich die Übel von Staatszerfallsprozessen auf die Untererbringung von Governance-Leistungen reduzieren oder geht mit dem Verlust staatlicher Rahmenbedingungen und legitimer politischer Institutionen selber etwas Bedeutsames verloren? In der Antwort auf diese Frage werde ich die These vertreten, dass Staatlichkeit zwar kein intrinsisch wertvolles Gut ist, sich jedoch die normativ relevanten Funktionen von staatlichen Institutionen nicht auf die Bereitstellung von Governance-Leistungen reduzieren lassen. Vielmehr ist Staatlichkeit (auch) ein spezifischer normativer Status, mit dem bestimmte Rechte, Pflichten und Verantwortungszuschreibungen verbunden sind, von denen die Herrschaftsunterworfenen als Bürger im Falle legitimer Staaten profitieren. Aus diesem Grund sind nichtstaatliche Governance-Regime aus normativer Perspektive lediglich Surrogate und keine Äquivalente zu staatlichen Strukturen.
Die zweite Frage, die diese Arbeit klären möchte, ergibt sich aus der Antwort auf die erste: Wenn zerfallene Staaten ein dermaßen schwerwiegendes normatives Problem sind, welche Reaktionsmöglichkeiten und Hilfspflichten ergeben sich dann daraus für die internationale Gemeinschaft? Zur Beantwortung dieser Frage entwickle ich im vierten Kapitel eine Typologie zerfallener Staaten und zeige unterschiedliche Reaktionspflichten für die verschiedenen Fälle auf. Einer dieser Fälle, der anomische Staatszerfall, ist dabei mit so schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen verbunden, dass sich hier die Frage nach der Zulässigkeit humanitärer Interventionen und der anschließenden Herrschaftsübernahme durch externe Akteure stellt. Diesem Fragekomplex gehe ich in den Kapiteln fünf und sechs nach. Dabei komme ich - auf Grundlage der Analyse des ersten Teils der Untersuchung - zu dem Ergebnis, dass solche Formen instrumentell gerechtfertigter Fremdherrschaft über eine begrenzte Legitimität verfügen, jedoch einen inhärenten normativen Mangel aufweisen, der ihren Geltungsbereich sowohl zeitlich als auch material beschränkt. Instrumentell gerechtfertigte Herrschaft ist aus normativer Perspektive ein unter Umständen gebotener Sonderfall, der jedoch darauf abzielen muss, lokale …