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Kultur der Medizin Geschichte - Theorie - Ethik Herausgegeben von Andreas Frewer
In der Moderne entsteht der Begriff der Normalität, der entlang von Gegensatzpaaren definiert wird. Dazu gehören die Begriffe Mann/Frau und krank/gesund. Der gesunde Mann stellt die Norm dar. Andrea Kottow zeigt anhand von Texten des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts etwa Manns Tod in Venedig und Weiningers Geschlecht und Charakter wie entlang der Themen Geschlecht, Körper und Sexualität Krankheit, Gesundheit, Männlichkeit und Weiblichkeit definiert wurden oder wie diese zur Etablierung von Normen beitrugen.
Vorwort
Kultur der Medizin Geschichte Theorie Ethik Herausgegeben von Andreas Frewer
Autorentext
Andrea Kottow, Dr. rer. medic., promovierte am Institut für Geschichte der Medizin der FU Berlin.
Leseprobe
Im Jahre 1906 erscheint eines der ersten Prosawerke des Österreichers Robert Musil: seine Erzählung Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, in welcher das in Unordnung geratene Seelenleben eines Adoleszenten beschrieben wird. Eine diese Konfusion spiegelnde Textpassage weist auf die Eckpunkte seiner Wirrnis hin: "In seiner Haut, rings um den ganzen Körper herum, erwachte [] ein Gefühl, das plötzlich zu einem Erinnerungsbilde wurde. Als er ganz klein war, [] als er noch Kleidchen trug und noch nicht in die Schule ging, hatte er Zeiten, da in ihm eine ganz unaussprechliche Sehnsucht war, ein Mäderl zu sein. Und auch diese Sehnsucht saß nicht im Kopfe, - oh nein, - auch nicht im Herzen, - sie kitzelte im ganzen Körper und jagte rings unter der Haut umher. Ja es gab Augenblicke, wo er sich so lebhaft als ein kleines Mädchen fühlte, daß er glaubte, es könne gar nicht anders sein. Denn er wusste damals nichts von der Bedeutung körperlicher Unterschiede, und er verstand es nicht, warum man ihm von allen Seiten sagte, er müsse nun wohl für immer ein Knabe bleiben. Und wenn man ihn fragte, warum er denn glaube, lieber ein Mäderl zu sein, so fühlte er, daß sich das gar nicht sagen lasse..." Die Verwirrungen und Verirrungen des jungen Törleß sind in Musils Internatsgeschichte vielfältig. Sie betreffen seine Geschlechtsidentität, sein sexuelles Begehren, sein Verständnis der Welt und der Realität. Törleß fragt nach seiner Eingliederung in die Normalität und zweifelt an seiner Gesundheit. Sein Körper erscheint ihm immer wieder als Quelle der Sinnlichkeit und Leidenschaft, was in ihm die Frage aufwirft, ob das bei den anderen Knaben denn genauso sei. Macht ihn das denn nicht ein bisschen zum Mädchen, wo er doch als Kind so häufig von dem Gefühl, eines zu sein, heimgesucht wurde? Ist sein sexuelles Erwachen, das ihn immer wieder zu den verbotenen Treffen mit seinem Klassenkameraden Basini treibt, abnorm? Ist Basini vielleicht nicht wie ein Mädchen? Ist er, Törleß, wie die anderen? Ist es Basini? Welche Rolle spielt der Körper in einem Knabenleben? Können Mathematik oder Philosophie, als zwei unterschiedliche Erkenntnismodelle, diese Fragen beantworten? Törleß ist ein Pubertierender und befindet sich in einer Krise. Die Problematik des Geschlechts zieht sich gleich einem roten Faden durch die gesamten Verwirrungen des Zöglings Törleß. Die Unsicherheiten auf der Ebene des Geschlechts erscheinen eng gekoppelt an die Frage der Identität. Törleß versucht sich zu verstehen, sich zu finden. Um den Weg dieser Suche zu begehen, muss er sich nach seiner Identität als Mann fragen, sich mit den Gleichaltrigen vergleichen, um einen Anhaltspunkt für eine Normalität zu erhalten. Er verbindet das Heraustreten aus dieser Normalität mit Krankheit. Seine Identitätskrise verbindet sich mit den Fragen nach Norm und Normüberschreitung. Konstitutiv für die Normalität sind neben dem Vergleich mit den Anderen auch die Wissenschaften und die dort möglicherweise anzufindenden Antworten auf das Unerklärbare, das über Törleß hereinbricht. Die Verwirrungen von Musil sind die Beschreibungen einer Pubertät, einer altersbedingten Krise, in der ein Junge den Übergang zum Mann-Sein sucht. Die Fragen, die er sich stellt, finden ihren Ursprung in der durch sein Alter ausgelösten Krise. Die Adoleszenz erscheint als eine Zeit markiert, in der die Fragen nach Geschlecht und Identität verstärkt auftauchen und das ganze Weltbild beherrschen. Die Krise verallgemeinert sich zu einer Existenzkrise, in welcher jegliche Sicherheiten verloren zu gehen scheinen. Musils Erzählung ist jedoch nicht nur eine paradigmatische Pubertätsgeschichte, sondern auch ein zeittypisches Dokument der europäischen Jahrhundertwende. Die Fragen, die sich Törleß stellt, sind die Fragen, die sich in verschiedenen Diskursen des fin de siècle wiederfinden lassen. Medizin, Psychologie, Sexualwissenschaften, Kulturkritik sowie Literatur und Bildende Künste wenden ihren Blick in genau die Richtung der Fragen, die Törleß in Musils Werk zu bewältigen versucht. Die Verwirrungen des Törleß sind nicht nur die Verwirrungen eines Pubertierenden, sondern auch die Wirrungen einer Epoche, die sich selbst als in einer profunden Krise befindende Zeit wahrnimmt. Die Fragen nach den Geschlechtsidentitäten, nach der Beschaffenheit von Sexualität, nach den psychischen Unterschieden zwischen Mann und Frau beherrschen viele Diskurse der Jahrhundertwende. Diese Probleme erscheinen in einer von der Leitwissenschaft Biologie determinierten Zeit eng an die Begriffe von Krankheit und Gesundheit gebunden. Törleß akzentuiert in seinem Kindheitsrückblick, dass er sich einst nicht vorstellte, ein Mädchen zu sein, es war kein vom Verstand formulierter Gedanke, sondern ein Gefühl, ein körperliches Empfinden. Dieses körperliche Gefühl war nicht einfach da, sondern es entstand in einer erhöhten Aufmerksamkeit seinem Körper gegenüber. Verstand und Sprache werden durch diese Dominanz des Körpers ausgeschaltet. Und genau diese Vorherrschaft seiner Körperlichkeit machte Törleß zum Mädchen. In Musils Text erscheint die Körperlichkeit Törleß' immer mit Krisen seiner Geschlechtsidentität in Verbindung gesetzt. Den Höhepunkt für diese Entwicklung stellen die sexuellen Zusammentreffen zwischen Törleß und Basini dar, bei denen Törleß mal seine, mal Basinis Männlichkeit in Frage stellt. Die Frage nach dem Geschlecht und der Identität verbindet sich mit der Frage nach anderen Dichotomien: Liest man den Törleß als durch die Probleme der Jahrhundertwende markierten Text, erscheint die Frage nach dem Geschlecht gekoppelt an die Dichotomien von Natur und Kultur, von Körper und Geist oder Leib und Ratio. Die Krise, die Törleß durchlebt, in der er sich fragt, ob seine ausgeprägte Sinnlichkeit denn kompatibel mit seiner Identität als Mann sei; ob ihn so viel Präsenz des Körperlichen nicht zur Frau mache, ob die Vorherrschaft des Körpers, also die Vorherrschaft der Natur, ihn von der Normalität ausschließe, funktioniert als Synekdoche der Krise der Jahrhundertwende. Das Wort Krise, vom griechischen krísis - Entscheidung, entscheidende Wendung - bezeichnet eine "schwierige Lage, Situation, Zeit [die den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt]. Schwierigkeit, kritische Situation; Zeit der Gefährdung, des Gefährdetseins []". Die griechische Bedeutung der Entscheidung hat sich im heutigen Sprachgebrauch der Vokabel zeitlich auf die Lösung der Krise verschoben. Die Krise selbst bezeichnet die Notwendigkeit einer Entscheidung, ein Verlorensein zwischen den Optionen. Aus dieser Verwirrung ergeben sich neue Koordinaten; als Resultat der entscheidenden Krisenlösung. Die Zeit der Krisenbewältigung ist eine Zeit der Fragen und der Suche nach den möglichen Entscheidungen. Törleß sucht seine Identität, indem er zwischen den Dichotomien von Mann und Frau, von Geist und Körper schwankt. Er sucht nach der Harmonie zwischen diesen Gegensätzen, nach einer Neuordnung in seinem Inneren für diese Oppositionen. Das fin de siècle und seine Diskurse begehen einen ähnlichen Weg. In beiden Fällen verbindet sich die Krise mit ein…
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