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Unser 'Selbst' existiert gar nicht. Dies beweisen, so der Philosoph und Bewusstseinsforscher Thomas Metzinger, die Erkenntnisse der aktuellen Forschung. Aber was bedeutet das für unser Menschenbild? Was sind die technologischen und kulturellen Konsequenzen? Brauchen wir neben der Neuroethik auch eine Bewusstseinsethik? Der Ego-Tunnel eröffnet einen ebenso faszinierenden wie fundierten Zugang zur geheimnisvollen Welt des menschlichen Geistes.
Thomas Metzinger, geboren 1958, lehrt Philosophie an der Universität Mainz und ist ein weltweit anerkannter Bewusstseinsforscher. Er tritt ein für eine stärkere Vernetzung von Philosophie und Hirnforschung.
Autorentext
Thomas Metzinger, geboren 1958, lehrt Philosophie an der Universität Mainz und ist ein weltweit anerkannter Bewusstseinsforscher. Er tritt ein für eine stärkere Vernetzung von Philosophie und Hirnforschung.
Leseprobe
Kapitel 1
DAS ERSCHEINEN EINER WELT
Bewusstsein ist das Erscheinen einer Welt. Die Essenz des Phänomens des bewussten Erlebens besteht darin, dass eine einzige und einheitliche Wirklichkeit in die Gegenwart tritt: Wenn wir bewusst sind, erscheint uns eine Welt. Dies gilt für Träume ebenso wie für den Wachzustand; im traumlosen Tiefschlaf dagegen erscheint nichts: Die Tatsache, dass eine äußere Wirklichkeit existiert und dass wir darin anwesend sind, ist uns nicht zugänglich. Wir wissen nicht einmal, dass wir selbst existieren.
Bewusstsein ist ein ganz besonderes Phänomen, weil es Teil der Welt ist und gleichzeitig die Welt enthält. All unsere wissenschaftlichen Daten deuten drauf hin, dass Bewusstsein Teil der physikalischen Welt und zugleich ein evolvierendes biologisches Phänomen ist. Bewusstes Erleben ist jedoch weit mehr als Physik plus Biologie mehr als der Tanz eines fantastisch komplexen, rhythmischen Musters neuronaler Entladungen in unserem Gehirn. Das menschliche Bewusstsein unterscheidet sich von anderen biologisch evolvierten Phänomenen grundlegend dadurch, dass es eine Wirklichkeit dazu bringt, in sich selbst zu erscheinen. Es erzeugt Innerlichkeit: Der Vorgang des Lebens ist sich seiner selbst bewusst geworden.
Nach den verfügbaren Daten über Gehirne von Tieren und evolutionäre Kontinuität zu urteilen, ist das Erscheinen von Welten in biologischen Nervensystemen ein neueres Phänomen, vielleicht nur ein paar Millionen Jahre alt. In der Darwin schen Evolution könnte eine Frühform des Bewusstseins vielleicht vor etwa 200 Millionen Jahren in den primitiven Großhirnrinden von Säugetieren entstanden sein. Es verlieh ihnen eine Körperwahrnehmung, ein Gefühl für ihre Umwelt und steuerte Teile ihres Verhaltens. Meine eigene, rein intuitive Vermutung ist, dass auch Vögel, Reptilien und Fische schon seit langer Zeit eine einfache Art von Bewusstheit besitzen. Jedenfalls kann ein Tier, das nicht logisch denken und auch keine Sprache sprechen kann, zweifellos transparente phänomenale Zustände haben und mehr bedarf es nicht, um eine Welt im Bewusstsein erscheinen zu lassen. Bekannte Bewusstseinsforscher und theoretische Neurobiologen wie Bernard Baars, Anil Seth und David Edelman haben siebzehn Kriterien für Hirnstrukturen aufgestellt, die sehr wahrscheinlich dem Bewusstsein dienlich sind, und nicht nur bei Säugetieren, sondern auch bei Vögeln und möglicherweise sogar bei Tintenfischen sind die Belege für die Existenz solcher Strukturen oder sehr ähnlicher Funktionen überwältigend. Die empirische Evidenz für die Existenz von Bewusstsein bei Tieren ist mittlerweile weit jenseits jedes vernünftigen Zweifels.1 Genau wie wir sind auch Tiere »naive Realisten«, und wenn sie etwa Farbempfindungen haben, dann kann man plausiblerweise davon ausgehen, dass diese ihnen mit der gleichen Qualität der Direktheit, Gewissheit und Unmittelbarkeit erscheinen wie uns selbst. Der philosophische Punkt ist dagegen, dass wir all das in Wirklichkeit natürlich nicht wissen. Denn hierbei handelt es sich genau um die Art von Fragen, die wir erst genauer untersuchen können, wenn wir eine befriedigende Theorie des Bewusstseins aufgestellt haben.
Ein wesentlich jüngeres Phänomen trat vor wenigen tausend Jahren in Erscheinung: die bewusste Bildung von Theorien im Geist von menschlichen Philosophen und Wissenschaftlern. Jetzt spiegelte sich der Lebensprozess nicht nur in individuellen bewussten Organismen wider, sondern auch in Gruppen von menschlichen Wesen, die das Auftreten des selbstbewussten Geistes als solchem zu verstehen versuchten also