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In den 1960er und 1970er Jahren entstanden in Deutschland und Europa Protestbewegungen, die in ihrer Aufmüpfigkeit das gesellschaftliche Klima bestimmten und neue Themen besetzten. Plötzlich wurde der konservative Obrigkeitsstaat grundlegend in Frage gestellt. Auch der Dokumentarfilm veränderte sich inhaltlich, technisch, ästhetisch und konzeptionell. Wurde er vor 1960 überwiegend mit 35mm-Kameras gedreht, revolutionierten handliche 16mm-Kameras mit synchronem Ton die Annäherung an die Wirklichkeit. In den 1970er Jahren entstanden Medienkooperativen und Videogruppen, die dezidiert das Ziel hatten, mit Video als neuem Medium eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Internationale Filmhistoriker und Vertreter aus der aktiven Szene geben einen Überblick über diese Entwicklungen des Dokumentarfilms, seine theoretischen Ansätze und historischen Hintergründe. Neben den Videogruppen als Schwerpunkt werden u.a. internationale Vorbilder aus Frankreich und Großbritannien, die Rolle des Dokumentarfilms für die Schwulen- und Frauenbewegung sowie die Subversivität des Amateurfilms in der DDR beleuchtet. Der Band entstand in Zusammenarbeit mit dem DFG-Projekt 'Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland (1945-2005)'.
Autorentext
Hans-Michael Bock, geb. 1947 in Wilhelmshaven. Autor und / oder Herausgeber zahlreicher Publikationen zur deutschen und internationalen Filmgeschichte. Aus der Arbeit an der Loseblatt-Enzyklopädie "CineGraph Lexikon zum deutschsprachigen Film" entstand das Institut CineGraph Hamburgisches Centrum für Filmforschung e.V., dessen Vorstand Bock angehört.
Leseprobe
[6 7] ZIEL IST EIN POLITISCHER DOKUMENTARFILM, DER DIE GESELLSCHAFT VERÄNDERT
Zum Konzept einer "Gegenöffentlichkeit"
Der Begriff "Gegenöffentlichkeit" ist keineswegs so einfach zu definieren, wie sich vielleicht vermuten lässt. Er ist stark verbunden mit den alternativen Videogruppen und Medienwerkstätten, die Filme/Videos über verschiedene Protestbewegungen und Alternativkulturen drehten, deren Positionen nach landläufiger Meinung keine Chance hatten, über die etablierten Medien verbreitet zu werden. Oder es wurde dort nur verzerrt über sie berichtet. Der kritische, politisch engagierte Dokumentarfilm wurde in den 1970er Jahren hoffähig, doch erst in den 1980er Jahren fand bei linken Medienmachern eine Professionalisierung statt, die sich auch in offiziellen Aufträgen für das öffentlich-rechtliche Fernsehen niederschlug.
Aus heutiger Sicht ist es erstaunlich, dass diese spannende Phase der Filmgeschichte bisher kaum aufgearbeitet wurde und mit wenigen Ausnahmen die Filme im öffentlichen Bewusstsein nicht mehr präsent sind. Von daher erwies es sich als richtige Entscheidung für cinefest 2014 und das DFG-Forschungsprojekt zur Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland von 1945 bis 2005, sich mit dem Thema "Gegenöffentlichkeit und neue Wege im Dokumentarischen" zu beschäftigen. Dabei wurde bewusst ein offener Rahmen gewählt. Die technischen Umbrüche in den 1960er Jahren mit synchronen 16mm-Kameras (Direct Cinema, Cinéma Vérité) wurden ebenso berücksichtigt wie internationale Einflüsse aus Frankreich, England und Nordamerika sowie subversive Spuren im DEFA-Dokumentarfilm.
Der 27. Internationale Filmhistorische Kongress vertiefte das Thema durch Vorträge von Filmhistorikern, Medienwissenschaftlern und Praktikern. Thomas Weber verweist in seinem Beitrag auf die theoretischen Grundlagen des Begriffs Gegenöffentlichkeit, wie sie 1962 von Jürgen Habermas in seinem Grundlagenwerk "Strukturwandel der Öffentlichkeit" entwickelt und dann von Hans Magnus Enzensberger in "Baukasten zu einer Theorie der Medien" (1970) sowie von Oskar Negt und Alexander Kluge in "Öffentlichkeit und Erfahrung" (1972) weitergeführt wurde. In diesen theoretischen Basistexten wird die Entwicklung einer bürgerlichen Öffentlichkeit nachgezeichnet, die Ausgangspunkt für eine spätere Gegenöffentlichkeit war. Klaus Kreimeier bezeichnet ihn als Kampfbegriff und siedelt ihn insbesondere Ende der 1960er Jahre an, als versucht wurde, aus dem "manipulierten Rezipienten" einen "selbstbewussten Produzenten" von Bildern und Filmen zu machen. Kreimeier ver [7 8] knüpft den Begriff stark mit der Symbiose von sozialer Bewegung und operativer Medienarbeit. Er geht auf die Filme der Studierenden an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) ein, die sehr radikale Filme produzierten und ihr Institut nach einer Besetzung bezeichnenderweise in Dziga Wertow Akademie umbenannten. Nach einem studentischen Go-in wurden 18 Studenten der dffb verwiesen.
Der Bezug zum russischen Filmtheoretiker Dziga Vertov 1 kommt nicht von ungefähr, denn zusammen mit Sergej Tret'âkov entwickelte er ab 1923 Konzepte für Filme, die die Arbeiter aktivieren sollten. Die bisher stark spezialisierte und hierarchisierte Filmproduktion sollte ersetzt werden durch einen kollektiven Produktionsprozess, bei dem jeder alle Aufgaben übernehmen konnte. Diese Ansätze beeinflussten den politischen und sozial engagierten Dokumentarfilm der nächsten Jahrzehnte und wurden von der Videobewegung in den 1970er Jahren ebenso aufgegriffen wie von den Videoaktivisten im 21. Jahrhundert. Ähnlich einflussreich war die Radiotheorie von Bertolt Brecht um 1930, in der er forderte, das Radio von einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. In den 1930er Jahren entstand um John Grierson die britische Dokumentarfilmbewegung, die im Auftrag verschiedener staatlicher Organisationen über soziale Missstände berichtete und
Inhalt
-ZIEL IST EIN POLITISCHER DOKUMENTARFILM, DER DIE GESELLSCHAFT VERÄNDERT Zum Konzept einer »Gegenöffentlichkeit« - Thomas Weber: GEGENÖFFENTLICHKEIT UNANSCHAULICH - Klaus Kreimeier: GEGENÖFFENTLICHKEIT? Achtundsechzig: die wilden Anfänge - Kay Hoffmann: DIE TECHNIK VERÄNDERT DEN DOKUMENTARFILM. Neue Formen durch synchrone 16mm- und Video-Kameras - Wolfgang Stickel: VIDEOBEWEGUNG UND BEWEGUNGSVIDEOS. Politische Videoarbeit der Medienwerkstatt Freiburg in den 1980er Jahren - Gerd Roscher: AN GESELLSCHAFTLICHEN BRUCHSTELLEN. Gegenöffentlichkeit und Selbsttätigkeit in der alternativen Medienszene der 1970er Jahre - Christian Hißnauer: »FECHNER IST GROSSARTIG, ABER WILDENHAHN, MIT VERLAUB, EIN POMPÖSER LANGEWEILER«. Die dokumentarischen Ansätze der Zweiten Hamburger Schule - Thomas Tode: TEMPUS EDAX DIE GEFRÄSSIGE ZEIT. Zu den fünf Fassungen von Chris Markers Le fond de l'air est rouge - Julian Petley: WHICH SIDE WERE THEY ON? Rundfunk, Filmmacher und der Bergarbeiterstreik 1984/85 - Nathalie Karl/Ursula von Keitz: FRAUEN, BEWEGT. Filmische Positionen im westdeutschen Feminismus der 1970er und frühen 1980er Jahre - Daniel Kulle: »RAUS AUS DEN TOILETTEN, REIN IN DIE STRASSEN«. Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit in der westdeutschen Schwulenbewegung der 1970er Jahre - Ralf Forster: GRENZEN AUSLOTEN, FREIRÄUME SCHAFFEN. Kritische Tendenzen im DDR-Amateurfilm - Matthias Steinle: KEIN WIDERSPRUCH, ABER EIGENSINN. Subversion jenseits der Grenzen und die Grenzen der Kritik im DDR-Dokumentarfilm - Malte Voß: VIDEOAKTIVISMUS UND SOZIALE MEDIEN. Eine Bestandsaufnahme der Gegenöffentlichkeit durch Video im Internetzeitalter - Register