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'Wenn Mütter ihre Kinder über das höchste Gebirge der Welt ins Exil schicken, ohne zu wissen, ob sie einander jemals wiedersehen, kann etwas im Schneeland nicht stimmen ...' Rund 1000 Kinder aus Tibet fliehen jedes Jahr über die eisigen Pässe des Himalaya. Oft können sie kaum noch weiter und kämpfen gegen Schnee, Hunger und Erschöpfung. Ihr Ziel sind die Schulen des Dalai Lama in Nordindien. Dort, so hoffen ihre Eltern, erwartet sie eine bessere, freie Zukunft. Die engagierte Dokumentarfilmerin Maria Blumencron hat sechs Kinder auf ihrer Flucht begleitet. Mit ihrer abenteuerlichen, mitfühlend erzählten Geschichte macht sie zugleich auf die Missstände im besetzten Tibet aufmerksam.
Maria Blumencron, geboren 1965 in Wien, arbeitet als Filmemacherin und Schriftstellerin. Ihr ZDF-Film 'Flucht über den Himalaya' wurde mehrfach mit deutschen und internationalen Preisen ausgezeichnet. Die Begegnung mit den Kindern im Himalaya hat ihr Leben verändert. In Dharamsala hat sie nun eine große tibetische 'Familie' und in Köln mit dem Kameramann, der sie damals begleitete, einen kleinen Sohn. Zuletzt erschien von ihr 'Das Wunder von St. Petersburg. Rußlands Kinder und die Macht der Phantasie'.
Autorentext
Maria Blumencron, geboren 1965 in Wien, arbeitet als Filmemacherin und Schriftstellerin. Ihr ZDF-Film "Flucht über den Himalaya" wurde mehrfach mit deutschen und internationalen Preisen ausgezeichnet. Die Begegnung mit den Kindern im Himalaya hat ihr Leben verändert. In Dharamsala hat sie nun eine große tibetische "Familie" und in Köln mit dem Kameramann, der sie damals begleitete, einen kleinen Sohn. Zuletzt erschien von ihr "Das Wunder von St. Petersburg. Rußlands Kinder und die Macht der Phantasie".
Leseprobe
Little Pema, das Khampa-Mädchen
»Meine Mutter hat lange Haare. Sie ist zierlich und sehr schön. Sie hat auch ein gutes Herz, und was sie kocht, schmeckt wunderbar. Ich vermisse sie und sehe sie jeden Tag in meinen Gedanken. Sie trägt immer eine Chuba, singt viel und kennt lustige Witze. Das Besondere an meiner Mutter ist, daß sie die Fähigkeit besitzt, in die Zukunft zu sehen. Dazu verwendet sie Würfel, heilige Texte und Gebete. Sie betet immer abends, und ich weiß noch all ihre Gebete auswendig.
Meinen Vater mochte ich nicht. Denn er trank Alkohol und schlug meine Mutter. Er schlug auch mich. Nur meinen kleinen Bruder schlug er nicht. Wenn er mich schlug, weinte meine Mutter.« LITTLE PEMA
Startet der Vater das Moped, um nach Chamdo zu fahren, stehen sie alle in der Tür und hoffen, daß er die alte Rostlaube zum Laufen bekommt. Der Großvater murmelt seine Mantras, die Mutter nestelt nervös an den weiten Ärmeln ihrer Chuba, die Kinder kauen an ihren Nägeln. Dreimal tritt Vater mit seinen spitzen Stiefeln ins Pedal, dann endlich heult der Motor auf. Er schwingt sich auf den Sattel, lenkt die stotternde Maschine auf den Schotterweg und verschwindet grußlos hinter den Hügeln. Haben sie Pech, gibt das Moped seinen Geist auf, und Vater kommt fluchend zurück, die Maschine schiebend und tretend im Wechsel. Doch diesmal hört die Familie erleichtert, daß das Knattern immer leiser wird, je weiter sich der Vater aus ihrem Leben entfernt. Wenigstens für ein paar Tage.
Dann holt der Großvater seine Felle aus dem Stall, und die Mutter läuft ins Haus, um alle Fenster zu öffnen: Frischer Wind soll durch die niedrigen Zimmer wehen und alle bösen Worte, die in den letzten Wochen fielen, vertreiben. Little Pema fegt den Boden blank, klopft im Hof den Teppich aus, der kleine Bruder füllt die silbernen Opferschalen mit frischem Wasser. Langsam kehrt wieder Friede im Haus ein.
Doch nachts steht er plötzlich wieder an ihrem Bett. Ein großer schwarzer Schatten in der Dunkelheit. Little Pema ruft nach ihrer Ama, die im gleichen Zimmer schläft, aber die Kehle, zugeschnürt, hält jeden Ton darin gefangen. Gleich zerrt die eiserne Hand sie unter der warmen Decke hervor. Manchmal würgt er sie am Hals. Manchmal ist der Dolch ganz stumpf, den er ihr mitten ins Herz stößt. Manchmal, und das ist der schlimmste aller Träume, fühlt sie sich in die Höhe gerissen und in eine dunkle Schlucht geschmissen. Bevor sie unten, am tiefsten Grund ihrer Ängste aufschlägt, wacht Little Pema auf. Mit gelähmten Gliedern und einem sausenden Schmerz im Bauch.
Dann ist das gute Schaffell naß, und Little Pema schämt sich.
»Ama«, flüstert sie in die Dunkelheit, »es ist schon wieder passiert.«
Wird Ama wach, dann hört sie ihre Decken rascheln:
»Ts uu-sch oh, Pema-la! Komm zu mir, liebes Kind.«
Im Sommer duftet Amas Haar nach Kräutern und Gerste. Im Winter riecht es nach Herdfeuer und Schnee. Die Frauen im Dorf tragen ihre Zöpfe unter bunten, karierten Tüchern versteckt. Doch Little Pemas Ama ist anders. Zwar melkt sie die Yakkühe am frühen Morgen. Sie holt auch das Wasser vom nahen Fluß und röstet in einer riesigen Pfanne die goldgelbe Gerste zu Tsampa. Mittags kocht sie Reis mit Gemüse und Brei für den zahnlosen Alten. Die Yakfladen, die in der Sonne zu Brennmaterial getrocknet sind, wirft sie gekonnt über die Schulter in ihren Weidenkorb. Sie flickt den Blasebalg, mit dem der Alte das Herdfeuer am Lodern hält, sie flickt den Reifen des klapprigen Fahrrads, wenn sie in die Stadt fahren muß, um ihre Schaffelle zu verkau