Ein außergewöhnlicher Mordfall führt Mario Conde in die geheimnisvolle Welt von Havannas Barrio Chino. Ein alter Chinese baumelt tot in seinem Kämmerchen, mit zwei in die Haut geritzten Pfeilen und einem abgeschnittenen kleinen Finger. Ein religiöser Ritualmord mit Santería-Hintergrund? Oder steckt doch eine interne Abrechnung dahinter? Da Teniente Conde seiner attraktiven chinesischstämmigen Kollegin, der unwiderstehlichen Patricia Chion, nichts abschlagen kann, kümmert er sich selbst um diesen Fall. In den geheimen Zirkeln der chinesischen Gemeinde stößt Mario Conde auf mysteriöse Zusammenhänge und obskure Machenschaften und immer wieder auf Geschichten von Entwurzelung und Einsamkeit.
Leonardo Padura, geboren 1955 in Havanna, zählt zu den meistgelesenen kubanischen Autoren. Sein Werk umfasst Romane, Erzählbände, literaturwissenschaftliche Studien sowie Reportagen. International bekannt wurde er mit seinem Kriminalromanzyklus Das Havanna-Quartett. Im Jahr 2012 wurde ihm der kubanische Nationalpreis für Literatur zugesprochen, und im Juni 2015 erhielt er den spanischen Prinzessin-von-Asturien-Preis in der Sparte Literatur. Leonardo Padura lebt in Havanna.
Autorentext
Leonardo Padura, geboren 1955 in Havanna, zählt zu den meistgelesenen kubanischen Autoren. Sein Werk umfasst Romane, Erzählbände, literaturwissenschaftliche Studien sowie Reportagen. International bekannt wurde er mit seinem Kriminalromanzyklus Das Havanna-Quartett. Im Jahr 2012 wurde ihm der kubanische Nationalpreis für Literatur zugesprochen, 2015 erhielt er den spanischen Prinzessin-von-Asturien-Preis in der Sparte Literatur, 2023 den Pepe Carvalho Preis. Leonardo Padura lebt in Havanna.
Leseprobe
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Seit er seinen Verstand gebrauchen konnte und ein paar Dinge über das Leben wusste, war für Mario Conde ein Chinese immer das gewesen, was ein Chinese zu sein hatte: ein Individuum mit Schlitzaugen und lederner Haut von trügerischer, leberkranker Farbe. Jemand, der durch die Wechselfälle des Lebens von weit her gekommen war, aus einem unbekannten, schemenhaften Land zwischen riesigen Flüssen und unbezwingbaren Bergen mit schneebedeckten Gipfeln, die sich im Himmel verlieren, einem Land, reich an Sagen von Drachen und weisen Mandarinen und Philosophen mit verworrenen Lehren für jede Gelegenheit. Jahre später lernte er dann, dass ein Chinese, ein richtiger, perfekter Chinese, außerdem und vor allem jemand ist, der es versteht, die ungewöhnlichsten Speisen zuzubereiten, an denen sich ein verwöhnter Gaumen erfreuen kann. In Limonensaft gekochte und mit Basilikum, Kohl, Ingwer und Zimt gratinierte Wachteln zum Beispiel. Oder in Ei, Kamille und Orangensaft gewälztes und dann in einer unergründlichen, Wok genannten Pfanne auf kleiner Flamme in Kokosöl goldbraun gebratenes mageres Schweinefleisch, um ein weiteres Beispiel zu nennen.
Dennoch konnte ein Chinese in den beschränkten Vorstellungen, die El Condes historische, philosophische und gastronomische Vorurteile zementierten, auch ein sehr dünner und friedlicher Mann sein, der sich in Mulattinnen und Schwarze verliebt (wann immer sich die Gelegenheit dazu ergibt), mit geschlossenen Augen eine lange Bambuspfeife raucht, kaum etwas sagt, und selbst wenn, dann nur das, was er gerade für nötig erachtet, und zwar in dem näselnden Singsang, der diesen Menschen eigen ist, sobald sie sich einer fremden Sprache bedienen.
Ja, all das ist ein Chinese, bestätigte er sich, nachdem er eine Weile darüber nachgesonnen hatte; doch dann kam er zu dem Schluss, dass solch ein konstruierter Mensch, wenn man es recht bedachte, nichts weiter als der Standard-Chinese war, ausgedacht von einem schematischen, westlich-kubanischen Verstand. El Conde fand dieses Klischee jedoch harmonisch und gelungen, und so war es ihm gleichgültig, dass das vertraute, fast idyllische Bild auf einen wirklichen Chinesen nicht zutraf und keinerlei Bedeutung hatte für jemanden, der den alten Juan Chion nicht kannte und nicht das Glück gehabt hatte, die von ihm zubereiteten Speisen zu kosten. Juan Chion war der Vater seiner Freundin und Kollegin Patricia, die El Conde dazu gezwungen hatte, sich über seine dürftigen Kenntnisse der kulturellen und psychologischen Beschaffenheit eines Chinesen Gedanken zu machen.
Das Bedürfnis, das Wesen des Chinesen zu ergründen, war an jenem Nachmittag im Jahre 1989 in ihm aufgekommen, als er nach vielen Jahren wieder einmal das alte Chinesenviertel von Havanna besuchte, in das ihn diesmal eine der üblichen Pflichten seines Berufes rief: Ein Mann war ermordet worden, und der Tote war ausgerechnet ein Chinese.
Wie alle Situationen, in denen ein Chinese (auch ein toter) aufkreuzt, war auch diese kompliziert: Der Mann, der Pedro Cuang geheißen hatte, war nicht auf die einfache, schlichte Art liquidiert worden, auf die man in der Stadt normalerweise zu morden pflegte. Weder durch einen Schuss noch durch einen Messerstich oder einen Schlag auf den Kopf hatte man ihn getötet, nicht einmal vergiftet oder verbrannt hatte man ihn. Der ethnischen Herkunft des Opfers entsprechend, handelte es sich um einen seltsamen Mord, ziemlich orientalisch und ausgefallen für ein Land, in dem zu leben schwieriger war (und für lange Zeit noch sein sollte), als zu sterben. Ein sozusagen exotisches Verbrechen, gewürzt mit äußerst komplizierten Zutaten: zwei mit einem Messer in die Haut geritzte Pfeile auf der Brust und ein abgeschnittener Finger, falls Ihnen das fürs Erste reicht.
Viele Jahre später, als Mario Conde kein Teniente mehr war (und noch weniger Polizist), sollte er auf den Spuren einer Obses