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Wer kennt sie nicht, die Königin der Nacht, Don Giovanni oder Figaro. Kaiser versucht, Mozarts Gestalten so zu betrachten, als wären sie lebendige Menschen. Was sind sie, wie fühlen sie, wie verhalten sie sich, welche Wünsche verbergen oder offenbaren sie? Porträts lustiger, aufregender oder ungewöhnlichen Menschen - Joachim Kaiser ist ein 'Who is who bei Mozart' gelungen, in dem auch unbekanntere Charaktere ihre Würdigung erfahren. Die Gestalten in Mozarts Meisteropern von Alfonso bis Zerlina.
Joachim Kaiser, geboren 1928 in Milken/Ostpreußen, studierte Musikwissenschaften, Germanistik, Philosophie und Soziologie. Er war lange Zeit Kulturkritiker bei der Süddeutschen Zeitung in München und Professor an der Hochschule für Musik und darstellende Künste in Stuttgart. Joachim Kaiser verstarb 2017.
Autorentext
Joachim Kaiser, geboren 1928 in Milken/Ostpreußen, studierte Musikwissenschaften, Germanistik, Philosophie und Soziologie. Er war lange Zeit Kulturkritiker bei der Süddeutschen Zeitung in München und Professor an der Hochschule für Musik und darstellende Künste in Stuttgart. Joachim Kaiser verstarb 2017.
Leseprobe
Donna Anna
Sopran. Tochter des Komturs. Geriet in den Bannkreis Don Giovannis, der sie überwältigen wollte und ihren Vater tötete. Steht unter seelischem Überdruck. Höchst ausdrucksvoll und labil. Ihr Verlobter, Don Ottavio, kann ihr einstweilen nur wenig helfen. Die Hochzeit wird aufgeschoben. Ob Zeit alle Wunden heilt?
Aus: Don Giovanni
Daran gibt es keinen Zweifel: Don Giovanni hat diese junge Frau berührt. Körperlich berührt - während er sie zu überwältigen versuchte. In ihrem wilden, von panischschmerzlichen Orchesterakkorden begleiteten Rezitativ berichtet Donna Anna dem Don Ottavio, was der Unhold ihr antat in jener Nacht. Die Schilderung ist eindeutig in dem, was sie sagen will, aber nicht völlig eindeutig in dem, was sie besagt.
Donna Anna: »Schweigend nähert er sich mir, und er will mich umarmen. Ich versuche, mich zu befreien, er umklammert mich fester, ich schreie. Es kommt niemand. Mit einer Hand will er mir den Mund zuhalten, mit der anderen hält er mich so fest, daß ich mich schon überwältigt glaube.«
Don Ottavio: »Der Schändliche! Und dann?« Donna Anna: »Schließlich wuchs durch den Schmerz, durch das Entsetzen vor dem gemeinen Überfall derart meine Kraft, daß ich mich durch Drehen, Winden und Biegen von ihm löste.« Don Ottavio: »Ach, ich atme auf.«
»Es kommt niemand« oder »ich glaube mich schon überwältigt« - solche Aussagen deuten ein schreckliches Vergehen der Zeit an. Sie deuten die Möglichkeit von etwas Geschehendem an, worüber Donna Anna nicht spricht. Vielleicht, dann wäre sie Lügnerin, weil sie sich nicht erinnern will. Vielleicht, dann hätte sie sekundenlang das Bewußtsein verloren gehabt wie Kleists Marquise von O., weil sie die Überwältigung tatsächlich nicht erlebte, sondern nur körperlich tief verstört nach-fühlt.
Man kann das alles so deuten. Und man kann auch Donna Annas Beschreibung des Abwehrkampfes - »Drehen, Winden, Biegen« - seltsam erotisch gefärbt finden. (Gewiß, Don Juan ist, als Typus, kein Vergewaltiger. Aber die Eile, mit der man am Ende des ersten Aktes, im Schloß, Fräulein Zerlina ins Kabinett zerrt, der nicht etwa Lust-, sondern Angstschrei, welcher dann sehr schnell dem offenbar Überfallenen Mädchen abgepreßt wird: solche Fakten belegen doch, daß der Verführer sein Liebes-»Vorspiel« zumindest nicht immer hübsch umfangreich und zeitraubend gestaltete.) Beim »Aufatmen« - ausgerechnet nach dem vielleicht heikelsten, zweideutigsten Moment von Donna Annas Erzählung - verhält sich Don Ottavio schon sehr positiv-optimistisch. Man kann darüber lächeln.
Aber obwohl Don Giovanni die Donna Anna irgendwie schlimm und gewaltsam berührte, so daß sie diese Berührung nicht vergessen kann und sich ihrer vor Beginn der großen Rezitativ-Erzählung plötzlich wegen einer vielleicht spontanen Handbewegung oder Wendung Don Giovannis schockhaft erinnert, zumal der noble, innige Verlobte seine edle Braut gewiß anders zu berühren, anzufassen pflegt, als Don Giovanni es bei seinem nächtlichen Überfall tat - wir dürfen nie vergessen, wie zweideutig das Verbum »berühren« selber ist. Eine Frau »berührt« haben meint im Deutschen, im Erlesen-Schriftdeutschen, sie besessen, sie erotisch geliebt haben. (»Ich habe fast jeden Tag gegessen, ich habe Frauen berührt«, sagt etwa Herr Teste in Max Rychners Valéry-Übersetzung.) Gleichwohl kann das Tätigkeitswort »berühren« natürlich auch nur den bloßen Körperkontakt bedeuten, wie er beim Streicheln, Streiten, Sichbegegnen, Kämpfen, Ringen entsteht. Auch dieser Kontakt kann von verletzender, bannend traumatisierender Wirkung sein.
Welche Überzeugungen wohl- oder übelmeinende Interpreten über Mozarts »Erotik« oder über vermeintlich »selbstverständliche weibliche Reaktionen« hegen zu dürfen glauben: man muß hier respektieren, daß Da Ponte und Mozart Donna Anna mit einem Geheimnis umgaben. Dieses Geheimnis liegt zum einen in der Vieldeutigkeit körperlicher »Berührung« beschlossen, zum ande