Was hast du gesehen? An einer abgelegenen Straße in Maine wird ein fünfjähriges Mädchen gefunden. Ihre Kleidung ist mit Blut bespritzt, das nicht von ihr stammt, und niemand weiß, zu wem sie gehört. Als in einem Haus in der Nähe drei Leichen gefunden werden, vermuten die Ermittler darunter auch die Mutter - doch keiner der Toten war mit dem Kind verwandt. Dalia Lamont, die in einer Einrichtung für Pflegekinder arbeitet, nimmt sich des Mädchens an. Was hat es beobachtet, worüber es nicht sprechen kann? Spannend und hochemotional - die verzweifelte Suche nach einer Mutter.
Jacqueline Sheehan ist Autorin zahlreicher New-York-Times-Bestseller. Außerdem arbeitet sie als Psychologin und leitet Schreibseminare. Sie lebt in der Nähe von Northampton in Massachusetts. Mehr zur Autorin unter www.jacquelinesheehan.com
Was hast du gesehen?
An einer abgelegenen Straße in Maine wird ein fünfjähriges Mädchen gefunden. Ihre Kleidung ist mit Blut bespritzt, das nicht von ihr stammt, und niemand weiß, zu wem sie gehört. Als in einem Haus in der Nähe drei Leichen gefunden werden, vermuten die Ermittler darunter auch die Mutter - doch keiner der Toten war mit dem Kind verwandt. Dalia Lamont, die in einer Einrichtung für Pflegekinder arbeitet, nimmt sich des Mädchens an. Was hat es beobachtet, worüber es nicht sprechen kann?
Spannend und hochemotional - die verzweifelte Suche nach einer Mutter.
Autorentext
Jacqueline Sheehan is the acclaimed author of The Center of the World and other NY-Times-Bestseller. In addition to being a fiction writer and essayist, she is also a psychologist. She is a New Englander through and through, but spent twenty years living in the western states of Oregon, California, and New Mexico doing a variety of things, including house painting, freelance photography, newspaper writing, clerking in a health food store, and directing a traveling troupe of high school puppeteers. She lives near Northampton in Western Massachusetts. Mehr unter www.jacquelinesheehan.com
Leseprobe
Auf dem Parkplatz vor der Vermittlungsstelle für Pflegekinder fiel Delia wieder ein, dass sie ihre aktuellen Fälle nicht sorgfältig dokumentiert hatte und zum ersten Mal in ihrer beruflichen Laufbahn nicht so gut organisiert war wie gewohnt. Sie zog deshalb ihren Laptop heraus und tippte vor ihrem Treffen mit Ira wie wild darauf herum.
Sie hatte auch zu ihrem letzten Fall noch keine Notizen gemacht. Sie gab den einzelnen Fällen insgeheim Titel, über die Ira nur missbilligend die Stirn gerunzelt hätte, weil sie möglicherweise der Tragödie eines Kindes nicht gerecht wurden oder das Drama der Eltern verharmloste, die wegen Alkohol, Drogen, psychischer Erkrankungen oder einfach schlechten Charakters aus der Bahn geraten waren.
Sie gab die Titel ihrer Fälle niemals preis, behielt sie aber im Kopf. Manchmal fassten sie ein ganzes Leben zusammen, andere bezogen sich nur auf eine Befragung. »Transformator Joe« hatte sie den Fall eines Jungen genannt, der sich innerhalb von Sekunden von einem süßen Kerl zu einem Tyrannen wandeln konnte. »Lass mir die Decke« war der Titel für einen Fall, in dem ein Kind furchtbare Zeiten mit Hilfe einer zerschlissenen blauen Decke überstanden hatte, von der inzwischen nur noch ein Stück, nicht größer als ein Taschenbuch, übrig war. »Wir sind Atome, die sich immer wieder neu verbinden« war die Überschrift für den Fall einer Familie mit vier Kindern, die über drei Pflegefamilien verteilt waren, bis Delia sich dafür einsetzte, dass eine Familie alle vier bei sich aufnahm.
Diese Titel halfen ihr dabei, sich die wichtigsten Einzelheiten im Leben eines Menschen zu merken, genau wie bei Fotos in einem Album, die man mit einer Überschrift versah. Nur wenige Menschen besaßen heutzutage noch Fotoalben. Sie speicherten die Fotos auf ihren Smartphones oder in ihrer Cloud. Delia wusste nicht genau, was eine Cloud war, und es war ihr peinlich, danach zu fragen. Wenn man ein Foto oder den Unterbringungsort eines Kindes in die Cloud gab, konnte man es dann jemals wieder daraus löschen? Sie würde einen Praktikanten fragen.
Ihr letzter Praktikant hatte zu ihr gesagt: »Wie alt bist du? Du wirkst viel älter, als du aussiehst.« Der Kommentar bezog sich wohl auf ihre Wissenslücken hinsichtlich der Cloud-Technologie. Sie war zweiunddreißig und hoffte, dass es nicht an ihrem Aussehen lag, auch wenn sie sich manchmal um Jahrzehnte älter fühlte.
Als Delia ihrem Chef Ira verkündet hatte, dass sie kündigen würde, hatte er das nicht gut aufgenommen. »Es ist wegen Juniper, oder? Du kannst dich nicht immer um sie kümmern.«
Doch in Wirklichkeit ging es bei der Kündigung um Delia selbst und darum, dass sie in ein neues Leben ohne Sozialdienst starten wollte.
Ira leitete die Einrichtung für die Vermittlung von Pflegekindern im südlichen Maine.
Und er hatte sich hochgearbeitet. Er war selbst ein Pflegekind gewesen, das man mit acht Jahren mit Verbrennungen aus dem Shriners Hospital in Boston entlassen hatte. Delia hatte ihn nie zu den Misshandlungen befragt, die ihm zugefügt worden waren; die Brandnarben an seinen Armen verrieten genug über das furchtbare Trauma, das er erlebt haben musste. Er war einer der Überlebenden dieses Systems und hatte nur zwei Pflegefamilien durchlaufen müssen, bevor er zu der Familie kam, die ihn adoptierte. Seine leibliche Mutter war an einer Überdosis Drogen gestorben, sein leiblicher Vater saß im Gefängnis und hatte die beste Entscheidung für seinen Sohn getroffen, indem er auf sämtliche Elternrechte verzichtet hatte. Ira war zu jemandem geworden, dem nichts entging, der jedes Zucken bemerkte, denn als Kind hatte er gelernt, wachsam zu sein und auf die Stimmungsschwankungen seiner Eltern zu achten, herauszufinden, ob deren Laune kippte.
»Es wird mir einfach zu viel«, hatte Delia zu ihm gesagt und seinen Kommentar über Juniper ignoriert.
Sie schrieb ihre Notizen fertig und speich