CHF9.90
Download steht sofort bereit
Unter dem Pseudonym Inci Y. bricht eine Türkin das Schweigen der Frauen und erzählt stellvertretend für Hunderttausende ihr Leben: als Mädchen eingesperrt, als Frau gedemütigt, geprügelt, vergewaltigt. Von Liebe spricht keiner. Die einen hintergehen ihre Männer, die anderen sind stumme Dulderinnen. In Anatolien genauso wie im Land der Verheißung, in Deutschland.
Inci Y. hat in Wirklichkeit einen anderen Namen. Sie wurde 1970 als Kind türkischer Gastarbeiter in Deutschland geboren. Mit sechzehn wurde sie zwangsverheiratet und zehn Jahre später geschieden. Nach einer weiteren aufgezwungenen Ehe lebt sie heute als ungelernte Arbeiterin mit ihren Kindern in einer deutschen Kleinstadt. Sie veröffentlichte die Bücher 'Erstickt an euren Lügen' und 'Erzähl mir nix von Unterschicht'.
Autorentext
Inci Y. hat in Wirklichkeit einen anderen Namen. Sie wurde 1970 als Kind türkischer Gastarbeiter in Deutschland geboren. Mit sechzehn wurde sie zwangsverheiratet und zehn Jahre später geschieden. Nach einer weiteren aufgezwungenen Ehe lebt sie heute als ungelernte Arbeiterin mit ihren Kindern in einer deutschen Kleinstadt. Sie veröffentlichte die Bücher "Erstickt an euren Lügen" und "Erzähl mir nix von Unterschicht".
Leseprobe
Nach Gefühlen fragt keiner
Gewalt
»Nehmt sie mir nicht weg«, fleht Oma inständig, schlägt sich auf die Knie, kauert schließlich am Boden, tieftraurig, leer. Papa ist nach Ankara gekommen und holt mich ab. Es ist Zeit zu gehen. Noch einmal drehe ich mich um. Nie zuvor hat Oma so deutlich gezeigt, wie viel ihr an mir liegt. Ich kann mich nicht erinnern, daß sie mich jemals umarmt oder geküßt hat. Es ist herzzerreißend. Sie stirbt ohne mich, denke ich. Wir gehen. Ich habe das Gefühl, mein halber Körper bleibt da.
Meine Eltern waren in der Zwischenzeit innerhalb Deutschlands umgezogen. Wir wohnen jetzt am Rand einer mittelgroßen Stadt, in einem »sozialen Brennpunkt«, wie es so schön heißt. Graugrüne vierstöckige Häuser aus dem gemeinnützigen Wohnungsbau-Programm der frühen fünfziger Jahre stehen zwischen Bäumen, Büschen und Grasflächen. Das viele Grün fällt mir als erstes auf - wie jedem, der aus dem Süden nach Deutschland kommt.
Papa parkt das Auto, wir gehen zu einem dieser Häuser. Es mutet hier wie in einem kleinen türkischen Dorf an. Überall sehe ich nur Landsleute - sie leben in einer eigenen Welt. Mit den Gesetzen der Türkei, die mit denen in Deutschland wenig gemein haben.
Je länger der Weg wird, desto weicher werden meine Knie. Da ist niemand, den ich kenne, keiner, hinter den ich mich hätte flüchten können. Ich sehe plötzlich Eda - sie ist gerade acht geworden. Sie spielt vor einem dieser tristen Mietshäuser. Bei ihr ist ein kleines Mädchen, das muß Songül sein, meine kleine zweijährige Schwester. Mit ihr war Mutter im neunten Monat schwanger, als ich so krank war und Oma wollte, daß Mutter zu uns nach Ankara reist.
»Songül ist auch deine Schwester«, erklärt Papa, was ich ja schon ahnte. Wir gehen durch eine Haustür, deren schmutziggraue Farbe abblättert, in den zweiten oder dritten Stock. Mein Vater klingelt.
Die Tür öffnet sich - Ali steht vor uns, dreht sich wortlos um, geht ins Zimmer. Ich höre einen Säugling weinen, erfahre da erst, daß ich einen kleinen Bruder habe, nur wenige Wochen alt.
Ich liebe Babys. Tufan ist taub auf die Welt gekommen, kann aber seit einer Operation wieder normal hören. Er ist oft krank, ständig muß er ins Krankenhaus gebracht werden. Ich liebe ihn vom ersten Moment an, schwöre mir, daß ich immer alles für ihn tun werde.
Mutter umarmt mich zur Begrüßung. Dann bleiben uns gerade mal zwei Stunden Zeit, bis unsere Wohnung voller Besuch ist. Es kommen viele türkische Familien vorbei, die mich sehen wollen. Im ganzen Haus wohnt nur ein einziges deutsches Ehepaar. Beide hören nicht mehr gut, wie ich später erfahre, und fühlen sich deshalb vom lauten Durcheinander, das hier Tag und Nacht herrscht, nicht sonderlich gestört.
Unsere Wohnung quillt geradezu über vor Menschen. Die Männer halten sich im Wohnzimmer auf, die Frauen in der Küche.
»Koch Tee«, fordert Mutter mich auf.
Die folgende Szene werde ich nie vergessen, sie läuft noch nach Jahren wieder und wieder wie ein Film vor meinen Augen ab: Ich stehe vor dem Herd und fühle mich völlig verloren. Fragend schaue ich auf Mutter, die mit den Gästen am Küchentisch sitzt.
»Da stehen Teegläser.« Sie zeigt auf den Schrank. Prompt öffne ich die falsche Tür. Dahinter liegen stapelweise Handtücher.
»Warum bist du nur so blöd?« herrscht sie mich an.
»Sie ist doch gerade erst angekommen. Woher soll sie das wissen?« nimmt mich eine Besucherin in Schutz.
Jetzt lerne ich Mutter kennen: Sie steht auf, tritt auf mich zu, ohrfeigt mich rechts und links mit voller Wucht. Zum ersten Mal im Leben werde ich geschlagen. In dieser Sekunde stirbt sie für mich. Schlagartig ist mir klar, daß ich sie als Mutter niemals akzeptieren werde.
Oma hatte Gewalt nicht nötig. Sie gewährte mir endlose Freiheit. Wenn ich einmal etwas falsch gemacht habe, hat sie es mir mit zwei, drei Worten erklärt. Ruhig u