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'Das Urteilen' war von Hannah Arendt als dritter Teil ihres Werkes 'Vom Leben des Geistes' geplant und wurde aus dem Nachlass der Philosophin rekonstruiert. Unter Berufung auf Immanuel Kant weist Arendt dem Urteilen im Leben des Geistes einen spezifischen Platz zu. Mit seiner Hilfe orientiert sich der Mensch in der Welt, schafft er Sinn. Ein breites Spektrum an Fragen wird deshalb sichtbar: Leben, Tod und Liebe, Probleme der Freiheit und der Würde des Menschen.
Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 in Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 in New York gestorben, studierte Philosophie, Theologie und Griechisch unter anderem bei Heidegger, Bultmann und Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 emigrierte sie nach Paris, 1941 nach New York. Von 1946 bis 1948 war sie als Lektorin, danach als freie Schriftstellerin tätig. Sie war Professorin für Politische Theorie in Chicago und lehrte ab 1967 an der New School for Social Research in New York. Zuletzt erschien bei Piper 'Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur?'.
»Das Urteilen« war von Hannah Arendt als dritter Teil ihres Werkes »Vom Leben des Geistes« geplant und wurde aus dem Nachlass der Philosophin rekonstruiert. Unter Berufung auf Immanuel Kant weist Arendt dem Urteilen im Leben des Geistes einen spezifischen Platz zu. Mit seiner Hilfe orientiert sich der Mensch in der Welt, schafft er Sinn. Ein breites Spektrum an Fragen wird deshalb sichtbar: Leben, Tod und Liebe, Probleme der Freiheit und der Würde des Menschen.
Vorwort
Die große Philosophin über Leben, Tod und Liebe.
Autorentext
Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 in Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 in New York gestorben, studierte Philosophie, Theologie und Griechisch unter anderem bei Heidegger, Bultmann und Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 emigrierte sie nach Paris, 1941 nach New York. Von 1946 bis 1948 war sie als Lektorin, danach als freie Schriftstellerin tätig. Sie war Professorin für Politische Theorie in Chicago und lehrte ab 1967 an der New School for Social Research in New York. Zuletzt erschien bei Piper "Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur?".
Leseprobe
Die Einbildungskraft
Aufzeichnungen zu einem Seminar über Kants »Kritik der Urteilskraft«, gehalten an der New School for Social Research, New York, im Herbstsemester 1970
Vorbemerkung des Herausgebers: In diesen Seminaraufzeichnungen behandelt Hannah Arendt den Begriff der exemplarischen Gültigkeit, der auf den Seiten 101-102 der Kant-Vorlesung eingeführt wurde, ausführlicher, indem sie sich Kants Analyse der transzendentalen Einbildungskraft bei der Darstellung des Schematismus besonders in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft zuwendet. Die exemplarische Gültigkeit ist von entscheidender Bedeutung; denn sie liefert die Grundlage für eine Auffassung von Politischer Wissenschaft, die das Besondere (Geschichten, historische Beispiele) und nicht Universalien (den Begriff des historischen Prozesses, allgemeine Gesetze der Geschichte) in den Mittelpunkt stellt. Arendt zitiert Kant, um klarzumachen, daß die Schemata für die Erkenntnis das leisten, was die Beispiele für das Urteil erbringen (Kritik der Urteilskraft, 59). Ohne diesen wichtigen Hintergrund des Schematismus aus der ersten Kritik können wir die Rolle der Einbildungskraft in der Repräsentation und damit im Urteil nicht voll würdigen. Ein Fehler wäre es anzunehmen, die folgenden Seiten über die Einbildungskraft behandelten ein anderes Thema, sie wären von nur beiläufiger Bedeutung für das Urteilen. Das Gegenteil ist richtig. Dieses Seminarmaterial mit seiner weitausholenden Berücksichtigung der exemplarischen Gültigkeit, die zur Funktion der Einbildungskraft im Schematismus in Beziehung gesetzt wird, liefert ein unentbehrliches Einzelteil in dem Geduldspiel, mit dem wir hoffen, die genauen Konturen von Arendts Theorie des Urteilens zu rekonstruieren.
I. Die Einbildungskraft, sagt Kant, ist das Vermögen, das gegenwärtig zu machen, was abwesend ist, das Vermögen der Repräsentation. »Einbildungskraft ist das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung10 vorzustellen.«[1] Oder: »Die Einbildungskraft (facultas imaginandi) ... [ist] ein Vermögen der Anschauungen auch ohne Gegenwart des Gegenstandes.«[2] Diesem Vermögen, das Abwesende gegenwärtig zu haben, den Namen »Einbildungskraft (facultas imaginandi)« zu geben, ist natürlich genug. Wenn ich das, was abwesend ist, wieder vergegenwärtige, habe ich ein Bild (imago) in meinem Geist - ein Bild von etwas, das ich gesehen habe und nun in irgendeiner Weise reproduziere. (In der Kritik der Urteilskraft nennt Kant dieses Vermögen manchmal »reproduktiv« - ich repräsentiere, was ich gesehen habe -, um es vom »produktiven« Vermögen zu unterscheiden, dem künstlerischen Vermögen nämlich, das etwas, was es nie gesehen hat, produziert. Aber die produktive Einbildungskraft [das Genie] ist niemals völlig produktiv. Sie produziert zum Beispiel den Zentaur aus dem Gegebenen, dem Bekannten: dem Pferd und dem Menschen.) Das klingt, als ob wir uns mit der Erinnerung befassen. Doch für Kant ist die Einbildungskraft die Bedingung für die Erinnerung und ein viel umfassenderes Vermögen. In seiner Anthropologie behandelt er die Erinnerung, das Vermögen, sich »das Vergangene zu vergegenwärtigen«, zusammen mit einem »Vorhersehungsvermögen«, das die Zukunft vergegenwärtigt. Beide sind Fähigkeiten der »Assoziation«, d. h. der Verknüpfung des »Nicht-mehr« und des »Noch-nicht« mit dem Gegenwärtigen; und »obgleich nicht selbst Wahrnehmungen, dienen sie zur Verknüpfung der Wahrnehmungen in der Zeit«.[3] Die Einbildungskraft hat es nicht nötig, von dieser zeitlichen Assoziation gelenkt zu werden; sie kann sich nach Wunsch vergegenwärtigen, was immer sie mag.
Was Kant das Vermögen der Einbildungskraft nennt, nämlich das, was in der s