CHF10.90
Download steht sofort bereit
Wir halten uns für kritische, aufgeklärte Bürger, die ihre Rechte kennen. Doch wenn wir unsere Grundrechte aufzählen sollen, geraten wir ins Stottern. Das ist fatal. Denn in Zeiten, in denen Rechtspopulismus wieder salonfähig wird und die Demokratie in vielen Staaten wankt, brauchen wir die Grundrechte mehr denn je. Dieses Buch ist kein juristischer Kommentar, keine Staatsbürgerkunde, schon gar keine Sonntagsrede, sondern ein Realitätscheck: Was versprechen die Grundrechte? Und was davon halten sie? Welche Grundrechte haben wir, wozu berechtigen sie und wozu nicht? Georg Oswald zeigt: Unsere Grundrechte sind alles andere als selbstverständlich. Wir müssen sie schützen. Und wir schützen sie am besten, wenn wir sie nicht zu Lippenbekenntnissen verkommen lassen, sondern sie anwenden, jeden Tag.
Georg M. Oswald, geboren 1963, arbeitet seit 1994 als Rechtsanwalt in München. Seine Romane und Erzählungen zeigen ihn als gesellschaftskritischen Schriftsteller, sein erfolgreichster Roman 'Alles was zählt', ist mit dem International Prize ausgezeichnet und in zehn Sprachen übersetzt worden. Zuletzt erschienen von ihm der Roman 'Vom Geist der Gesetze' und der Band 'Wie war dein Tag, Schatz?'.
Autorentext
Georg M. Oswald, geboren 1963, arbeitet seit 1994 als Rechtsanwalt in München. Seine Romane und Erzählungen zeigen ihn als gesellschaftskritischen Schriftsteller, sein erfolgreichster Roman "Alles was zählt", ist mit dem International Prize ausgezeichnet und in zehn Sprachen übersetzt worden. Zuletzt erschienen von ihm der Roman "Vom Geist der Gesetze" und der Band "Wie war dein Tag, Schatz?".
Leseprobe
»Würde ist die konditionale Form von dem, was einer ist.« - Die Menschenwürde und die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte
»Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Der erste Satz des Grundgesetzes ist vermutlich der bekannteste deutsche Gesetzestext. Diese Bekanntheit ist ein wenig trügerisch, denn wenn man den Satz näher betrachtet, stellt man fest, dass er eher Rätsel aufgibt, als etwas zu erklären. Im Vorwort habe ich angedeutet, was er, ins Allgemeinverständliche übersetzt, bedeuten soll: Jeder hat ein Recht darauf, anständig behandelt zu werden. Doch diese »Übersetzung« kann nicht mehr als eine erste Orientierung geben.
In Deutschland gelten etwa zweitausend Bundesgesetze, Abertausende Landesgesetze und Zehntausende von Rechtsverordnungen. Hinzu kommen internationale Gesetze und Verträge, etwa die Rechtsverordnungen der EU oder Handels- und Militärabkommen mit anderen Staaten, und alle diese Regelwerke enthalten Hunderte und Tausende von Vorschriften. Wären sie alle gleichrangig, ergäben sie keine perfekt durchorganisierte Ordnung, sondern ein heilloses Durcheinander.
Da in der Hierarchie der Gesetze das Grundgesetz den höchsten Rang einnimmt und sein erster Artikel die wichtigste Regel formuliert, die unser Recht kennt, müssen sich alle Gesetze, die in Deutschland gelten oder neu geschaffen werden, an diesem ersten Artikel messen lassen.
Doch es ist seltsam: Je öfter man den Satz »Die Würde des Menschen ist unantastbar« liest, desto weniger verständlich erscheint er einem. Was soll er denn eigentlich heißen?
Man kommt ihm nur bei, indem man ihn Wort für Wort betrachtet. Beginnen wir mit den bestimmten Artikeln »die« und »des«. In ihnen steckt schon, dass jeder Mensch Würde hat, und zwar gleich viel, ohne Ansehen der Person, und dass Würde etwas Absolutes ist, das sich nicht relativieren lässt. »Des« Menschen bedeutet: jedes Menschen, ohne Ausnahme. Alles, was uns normalerweise einladend erscheint, um zwischen Menschen zu differenzieren, Hautfarbe, Religion, Herkunft, Sprache, soll im Hinblick auf ihre Würde also keinen Unterschied machen.
In den ersten sechs Worten des Grundgesetzes ist ein ganzes Menschenbild formuliert. Es ist radikal egalitär.
Wir neigen einerseits dazu, seine Behauptung für eine Selbstverständlichkeit zu halten - natürlich werden alle Menschen gleich an Rechten und Würde geboren -, aber wenn wir uns nur ein wenig Zeit nehmen, unseren Alltag zu betrachten, müssen wir zugeben, dass wir andererseits permanent damit beschäftigt sind, einander zu bewerten. Dies verletzt nicht notwendigerweise die Menschenwürde, doch es zeigt, dass schon diese erste, scheinbar einfache Formulierung des Grundgesetzes einen nicht unwesentlichen utopischen Anteil enthält, einen Anteil, der erst noch verwirklicht werden muss.
Das Substantiv »Mensch« scheint auf den ersten Blick unmissverständlich. Um die Frage, ab wann ein Mensch als Mensch gilt, wird jedoch erbittert gestritten. Genießt schon die befruchtete Eizelle den Schutz der Menschenwürde? Oder erst der geborene Mensch? Oder doch schon der Fötus? Und falls ja, ab wann genau?
Welche Festlegungen einem hier auch immer als zutreffend erscheinen mögen, man wird zugeben müssen, dass sie genauso willkürlich sind, wie sie erscheinen. Wie verhält es sich mit Menschen, die kein Bewusstsein mehr haben? Und was ist mit den Toten? Und ab wann ist jemand tot?
Zu all diesen Fragen gibt es Gerichtsentscheidungen und Lehrmeinungen. Aber wichtiger, als diese Urteile und Ansichten zu kennen (man kann sie zum Beispiel auf der Homepage des Bundesverfassungsgerichts in den dort abrufbaren Entscheidungen nachlesen), ist es, sich bewusst zu machen, dass noch das scheinbar selbstverständlichste aller Wörter der Auslegung und Interpretation bedarf. Diese Arbeit sollten wir, die Bürger, uns selbst machen und sie nicht ausschließlich den Juristen überlassen, d