'Hysteria' erzählt die Geschichte von Bergheim, der auf einem Biomarkt merkwürdig unnatürliche Himbeeren entdeckt. Auf der Suche nach dem Rätsel ihrer Beschaffenheit und Herkunft gerät er immer tiefer in eine kulinarische Dystopie, in der das Natürliche nur noch als absolutes Kunstprodukt existiert, weil das Künstliche längst alle Natur ersetzt hat. Aber keiner weiß davon. Nur seine Hypersensibilisierung befähigt Bergheim, die unheimliche Veränderung wahrzunehmen und ihr nachzugehen. Alle Fäden laufen im Kulinarischen Institut zusammen, wo er Charlotte wiedertrifft, seine Studienfreundin und ehemalige Geliebte, die nun als Leiterin an der Spitze der Bewegung des 'Spurenlosen Lebens' steht. Allein mit Ansgar, dem dritten im Bunde des ehemaligen Uni-Triumvirats, wird es Bergheim gelingen, etwas dagegen zu tun.
Eckhart Nickel, geboren 1966 in Frankfurt/M., studierte Kunstgeschichte und Literatur in Heidelberg und New York. Er geho?rte zum popliterarischen Quintett 'Tristesse Royale' (1999) und debu?tierte 2000 mit dem Erza?hlband 'Was ich davon halte'. Nickel leitete mit Christian Kracht die Literaturzeitschrift Der Freund in Kathmandu. Heute schreibt er vorwiegend fu?r die FAS, die FAZ und ihr Magazin. Bei Piper erschien u.a. die 'Gebrauchsanweisung fu?r Portugal'. Beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2017 wurde er fu?r den Beginn von 'Hysteria' mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet und war auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2018. 2019 erhielt er den Friedrich-Hölderlin-Förderpreis der Stadt Bad Homburg.
Autorentext
Eckhart Nickel, geboren 1966 in Frankfurt/M., studierte Kunstgeschichte und Literatur in Heidelberg und New York. Er gehorte zum popliterarischen Quintett "Tristesse Royale" (1999) und debutierte 2000 mit dem Erzahlband "Was ich davon halte". Nickel leitete mit Christian Kracht die Literaturzeitschrift Der Freund in Kathmandu. Heute schreibt er vorwiegend fur die FAS, die FAZ und ihr Magazin. Bei Piper erschien u.a. die "Gebrauchsanweisung fur Portugal". Beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2017 wurde er fur den Beginn von "Hysteria" mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet und war auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2018. 2019 erhielt er den Friedrich-Hölderlin-Förderpreis der Stadt Bad Homburg.
Leseprobe
3
Baumschule
Die Wanderer näherten sich dem Parkplatz mit großer Geschwindigkeit. Bergheim entdeckte sie, weil er auf einmal marschartige Schrittgeräusche vernommen hatte. Was in seinen Ohren klang wie eine kleine Armee, erwies sich bald als Gruppe von drei Paaren, die hintereinander herliefen. Vorneweg ein tiefbraun gebrannter älterer Herr mit markantem, schartigen Gesicht, der über einem groß karierten Hemd einen hellen Anorak mit weit ausladendem Kragen trug. In der rechten Hand schwenkte er einen Spazierstock, mit dem er unentwegt knapp aus dem Takt den Stechschritt kontrapunktierte. Seine beige Hose mit scharfen Bügelfalten gab beim Laufen den Blick frei auf die roten Schnürsenkel seiner soliden Wanderschuhe. Die wollenen Kniebundhosen der Frau, die neben ihm ging, reichten ihr bis über die Hüften, und unter ihrer olivfarbenen Militärbluse trug sie ein weißes Unterhemd. Am auffälligsten fand Bergheim jedoch das Rautenmuster ihrer Kniestrümpfe, das ihn an die geometrischen Figuren der Testbildschirme seiner Jugend erinnerte.
Er war damals nachts extra lang aufgeblieben, nur um zu sehen, wie sich irgendwann mitten in der Nacht die Senderfrequenz änderte und das bis zum Morgen unterbrochene Fernsehprogramm plötzlich von einer anderen Funkstation ausgestrahlt wurde. Doch bevor er länger darüber nachdenken konnte, was genau ihn daran so fasziniert hatte, war die Gruppe schon fast bei ihm. Bergheim kam der Verdacht, dass sie gar keine wirklichen Wanderer seien, sondern eine getarnt arbeitende Spezialeinheit der Tierzüchter vom Markt, die auf der Suche nach ihm war, weil er zufällig etwas gesehen hatte, das niemand jemals zu Gesicht bekommen hätte sollen.
Er stand rasch auf, drehte sich von ihnen weg und rückte dabei seine Krawatte zurecht, um direkt in einen Laufschritt zu verfallen, erst langsam, dann, Schritt um Schritt, immer schneller, wobei die Wanderer, wenn er sich nach ihnen umsah, seinem gesteigerten Tempo unmittelbar zu folgen schienen. Der Gesichtsausdruck des Mannes, der den anderen Pärchen vorauslief, war dabei gelöst und entspannt trotz der sichtbar sportlichen Anstrengung. Er und die Frau neben ihm lächelten einander zu, seine Brauen zogen sich schmal, den Konturen des Schädels folgend, direkt über den tiefen Augenhöhlen zusammen, als seien sie es, mit denen er die Gegend überblickte und gedanklich durchmaß. Bergheim versuchte, sie zu verwirren, indem er absichtlich seinen Gang so stark verlangsamte, dass er fast stehen blieb, und dann aus dem Nichts wieder einen kleinen Trab begann, aber immer war es das Gleiche, am Abstand von den Verfolgern änderte sich kein Jota.
Die Frau neben dem Anführer zeigte nun direkt auf ihn, winkte mit den Händen hin und her und zog dazu die Augenbrauen hoch, als ob sie ihn vor irgendetwas warnen wollte. Auf der Straße näherte sich ein Bus, der mit metallenen Bügeln an der Oberleitung hing, beim Hin- und Herschwenken blitzte es gefährlich laut auf, weil die Leitung im Zickzack verlief. In Fahrtrichtung des Busses war in einiger Entfernung eine Haltestelle zu sehen, an der sich eine Menschenmenge versammelt hatte, und Bergheim nutzte den Moment, da der Bus ihn passierte und dabei die Blätterhaufen am Straßenrand aufwirbelte, für einen Endspurt.
Als er völlig außer Atem den Bus erreichte und sich unter die gerade einsteigenden Passagiere mischte, fühlte er, wie ihm der Boden unter den Füßen wegzusacken drohte und er kurz davor war, in Ohnmacht zu fallen. Bevor ihm vollends schwarz vor Augen wurde, half er sich mit einem Trick, den er als Kind in einem Pfadfinder-Handbuch gelesen hatte: Kneife in schneller Abfolge die Augen erst zusammen, dann auseinander und bewege dazu den gespitzten Mund abwechselnd nach links und nach rechts. Das sah nun für die Menschen, die in der Menge um ihn herum standen, seltsam aus, zumal er gleichzeitig nervös von einem Bein auf das andere trat und nicht von der Stelle kam.
Inzwisch