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Sprechen wir über HipHop-Lyrics Schon seit Jahren quält uns der Verdacht, dass die HipHop-Rezeption hierzulande immer noch an der paternalistischen Seuche "Form über Inhalt" leidet. Alles, was die MCs reimen, wird als eins zu eins biographisch und authentisch gelesen. Deshalb haben sich Dalia Ahmed, Natalie Brunner, Mahdi Rahimi, Stefan Trischler und Ole Weinreich zusammengetan und huldigen dem sprachlichen Miniuniversum eines HipHop Tracks: Den Bildern und sprachlichen Figuren, den Analogien und Referenzen, den Wortspielen und historischen Fährten. Weil gute HipHop-Lyrics tatsächlich auch als "Lyrik" gelesen werden können, und wir ihnen endlich den dafür zustehenden Respekt erweisen wollen. Das ist schon viel zu lange überfällig! Der HipHop-Lesekreis wurde 2016 als beste Kurzsendung mit dem österreichischen Radiopreis der Erwachsenenbildung ausgezeichnet.
Autorentext
Ole Weinreich wurde 1982 in Wuppertal geboren. Sein geistiges Zuhause ist jedoch Atlanta. Er ist soziophob.
Klappentext
Sprechen wir über HipHop-Lyrics
Schon seit Jahren quält uns der Verdacht, dass die HipHop-Rezeption hierzulande immer noch an der paternalistischen Seuche "Form über Inhalt" leidet. Alles, was die MCs reimen, wird als eins zu eins biographisch und authentisch gelesen. Deshalb haben sich Dalia Ahmed, Natalie Brunner, Mahdi Rahimi, Stefan Trischler und Ole Weinreich zusammengetan und huldigen dem sprachlichen Miniuniversum eines HipHop Tracks: Den Bildern und sprachlichen Figuren, den Analogien und Referenzen, den Wortspielen und historischen Fährten. Weil gute HipHop-Lyrics tatsächlich auch als "Lyrik" gelesen werden können, und wir ihnen endlich den dafür zustehenden Respekt erweisen wollen. Das ist schon viel zu lange überfällig!
Der HipHop-Lesekreis wurde 2016 als beste Kurzsendung mit dem österreichischen Radiopreis der Erwachsenenbildung ausgezeichnet.
Leseprobe
Es gibt zahllose HipHop-Dokumentation und -Publikationen, denen zwei Dinge gemein sind: Sie enden in den frühen Neunzigerjahren mit der Ankunft des Gangsta-Rap im Mainstream, und sie betreiben eine Exotisierung von HipHop. Ein brachialer Einbruch von marginalisierten Sozietäten, der dazu geführt hat, dass die Diversität und Ambivalenz des HipHop von Mainstream-Medien und Teilen des Feuilletons im deutschsprachigen Raum dreißig Jahre später immer noch konsequent geleugnet und aktuelle HipHop-Veröffentlichungen nach einer Bestätigung von Vorurteilen sondiert werden. Der schwer zu fassende, teilweise auf Überaffirmation von diffamierenden Fremdzuschreibungen beruhende, teilweise aus Reflexion von persönlichen Lebenserfahrungen geschaffene Identitätsentwurf des Gangsta-Rappers scheint bis heute vor allem nicht in der gelebten Kultur aufgewachsene und lebende Rezipientinnen in Geiselhaft zu halten: »Rap ist im Allgemeinen homophob, frauenfeindlich, Kapitalismus affirmierend und dumm.« Seit Mitte der Neunzigerjahre ist HipHop formal als Kulturtechnik etabliert und hört nicht auf, sich inhaltlich zu diversifizieren. Der mit großen Budgets ausgestattete Rezeptionskanon endet meistens dort, wo Vereinheitlichung unmöglich wird und mensch keine romantischen Musical-Soap-Operas oder True-Crime-Dokumentationen mehr machen kann, wo die Idee von »Black CNN« nicht verstanden wird, Gut-Böse-Schemen zerfallen und eine Vielfalt von sich respektierenden obwohl sich widersprechenden Positionen zum Vorschein kommt. Die Hollywood-Produktionen und Netflix-Dokureihen enden dort, wo ein Kanon, dort, wo Vereinheitlichung unmöglich wird; dort, wo wir versuchen zu beginnen: im Reich jenseits der Eindeutigkeit und der Einheitlichkeit, wo es keine »Yellow Brick Road« des linearen Narrativs gibt. Wir haben lange Diskussionen darüber geführt, welche Reihung der Texte der Mission dieser Publikation am besten entsprechen könnte. Dem Entstehungsdatum der Texte nach? Dem Zeitpunkt der Veröffentlichung des besprochenen Stücks? Nach einer geografischen Ordnung? Nach einer inhaltlichen Nähe? Wäre Drake in diesem Fall Bewohner von Houston? Gehören Run the Jewels nach Atlanta oder New York? Und sind das nicht genau die Verflachungen und Vereinheitlichungen, die uns so geärgert haben, als wir vor fünf Jahren den HipHop-Lesekreis gestartet haben? Die Reihung ist immer auch ein System, das sich anmaßt, Autorität über die Ordnung der Dinge zu haben, das Verbindungen durch die Nebeneinanderstellung betont, andere durch Ignoranz streicht. Das stellt Fans vor Probleme, deren Punkt es ist, zu sagen: »Es gibt so viele Geschichten, die erzählt werden, das ist nur der Reim, den wir uns auf ein paar von ihnen machen; Schlaglichter, die auf Teilaspekte fallen.« Diese Probleme haben wir versucht, mit einem aus dem US-Sport kommenden Modell zu lösen, das sowohl zeitliche als auch örtliche Koordinaten hat: Nordamerika wird in die Zonen »Atlantic«, »Central« und »Pacific« eingeteilt. Innerhalb dieser drei Zonen, die zu Kapiteln der Publikation wurden, haben wir die Nummern nach Städten und Erscheinungsdatum geordnet. Mehrmals ist bereits das Wort »Ambivalenz« gefallen und da es, wie auch bereits gesagt, so viele Geschichten und Meinungen zu einem Stück Musik gibt, wollten wir eine Form finden, um zunächst im Radio über aktuelle Musik zu sprechen, die die Figur des urteilenden und wissenden Musikkritikers nicht braucht. Kritik braucht Regeln und ein Verortungs- und Regelsystem. Sonst ist sie Ausdruck einer persönlichen Befindlichkeit oder von persönlichen Vorurteilen und im schlimmsten Fall autoritär, manipulativ und rassistisch. Wir vom Lesekreis sind bei unserem Sprechen über die hier versammelten Musikstücke auch bis zum Haaransatz im Persönlichen, aber wir sprechen nicht als Kritikerinnen oder Journalistinnen, sondern der schönen, altmodischen Idee des Lesekreises entsprechend als die sechs Freundinnen, die sich vor dem Kamin im Radiostudio treffen, um über das zu reden, was sie letzte Woche gehört haben und das sie im Positiven wie im Negativen bewegt hat. Persönliche politische Agenden werden genauso in die Arena geworfen wie OK!-, InTouch- und WorldStarHipHop-Wissen (Tratsch und Klatsch also), jahrelanges Fantum und Hörerfahrung, Twitter- und Facebook-Posts der Artists, Memes und vieles mehr. Die Zeiten, als Plattenfirmen und Medien die Kanäle waren, wo im Namen und oft auch nicht im Interesse der Artists gesprochen wurde, sind vorbei. Es gibt unzählige nicht den Firmen und der Kontrolle der Kulturindustrie unterliegende Kanäle, über die veröffentlicht und rezipiert wird. Wann eine Plattenfirma ein Album, eine Single veröffentlicht und wie die Positionierung in den Billboard-Charts ausfällt, hat nichts (mehr) mit dem Erfolg und der kulturellen Relevanz eines Stückes zu tun. Ebenfalls obsolet geworden ist, dass »Erfolg« kommerziellem Erfolg und kulturellem Impact entspricht. Welche verschlungenen Wege ein Stück Musik gehen kann, warum ein gutes Meme wichtiger sein kann als eine Chart-Platzierung, ist in den einzelnen Kapiteln nachzulesen. Ebenso wie der uns teilweise auch nicht ganz einleuchtende Unterschied zwischen Album, Mixtape und Playlist. Die hier versammelten Texte sind überarbeitete Transkripte von Sendungen des HipHop-Lesekreises, die zwischen 2014 und 2017 auf FM4 zu hören waren. Dalia Ahmed, Natalie Brunner, Mahdi Rahimi, Stefan Trischler, Adia Trischler und Ole Weinreich Wien, im April 2018