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Naïma hat es lange nichts bedeutet, dass ihre Familie aus Algerien stammt. Wie soll ihre Verbindung zu einer Familiengeschichte, die sie nicht kennt, denn auch aussehen? War ihr Großvater wirklich ein 'Harki', ein Verräter? Vielleicht könnte die Großmutter es ihr erzählen, aber nur in einer Sprache, die Naima nicht versteht. Und ihr Vater, der 1962 nach Frankreich kam, in eines jener damals hastig errichteten Auffanglager, wo man die Algerienflüchtlinge versteckte, redet nicht über das Land seiner Kindheit...Um mehr zu erfahren, tritt Naïma eine weite Reise an ... Dieser Roman ist so lebendig wie ein Fresko. Was heißt es einerseits, aus einer Familie zu stammen, die über Generationen Gefangene einer 'schlimmen Geschichte' bleibt? Ein Plädoyer für die Freiheit man selbst zu sein, jenseits allen Erbes, aller sozialer oder familiärer Bindungen.
Alice Zeniter wurde 1986 in Alençon geboren und wuchs in dem kleinen Dorf Champfleur auf, bis die Familie nach Alençon zurückkehrte. Schon als Schülerin schrieb sie ihren ersten Roman. Nach ihrem Schulabschluss studierte sie an der École normale supérieure in Paris. Sie arbeitet(e) als Lehrerin und Dramaturgin (einige Jahre lang auch in Budapest). Alice Zeniter hat vor 'L'art de perdre' bereits vier Romane veröffentlicht; für ihren letzten Roman, 'Juste avant l'oubli', erhielt sie den begehrten Prix Renaudot des Lycéens.
Autorentext
Alice Zeniter wurde 1986 in Alençon geboren und wuchs in dem kleinen Dorf Champfleur auf, bis die Familie nach Alençon zurückkehrte. Schon als Schülerin schrieb sie ihren ersten Roman. Nach ihrem Schulabschluss studierte sie an der École normale supérieure in Paris. Sie arbeitet(e) als Lehrerin und Dramaturgin (einige Jahre lang auch in Budapest). Alice Zeniter hat vor "L'art de perdre" bereits vier Romane veröffentlicht; für ihren letzten Roman, "Juste avant l'oubli", erhielt sie den begehrten Prix Renaudot des Lycéens.
Leseprobe
Prolog
Seit einigen Jahren probiert Naïma eine neue Form der Verzweiflung aus: die Form, die sich konsequent mit einem Kater einstellt. Es handelt sich nicht einfach um Kopfschmerzen, einen pelzigen Mund oder einen verdorbenen Magen. Wenn sie die Augen nach einem der allzu feuchtfröhlichen Abende aufschlägt (sie musste unbedingt größere Abstände dazwischen einlegen, denn eine wöchentliche oder gar halbwöchentliche Katerstimmung konnte sie nicht ertragen), ist der erste Satz, der ihr in den Sinn kommt:
Ich werde es nicht schaffen.
Eine Zeit lang fragte sie sie sich, was mit diesem unvermeidlichen Scheitern gemeint sei. Es könnte bedeuten, dass sie die Scham nicht ertrug, die ihr das Verhalten vom Vorabend einflößte (du sprichst zu laut, du erfindest Geschichten, du buhlst um Aufmerksamkeit, du bist ordinär), oder dass sie bedauerte, so viel getrunken zu haben und kein Ende finden zu können (du selbst warst es, die rief: »He Leute, so gehen wir doch nicht auseinander!«). Der Satz mochte auch dem körperlichen Unwohlsein gelten, das sie räderte ... Und dann begriff sie.
An den verkaterten Tagen kann sie die unendliche Schwierigkeit mit Händen greifen, die daraus erwächst, zu leben, und die sich normalerweise durch Willenskraft verbergen lässt.
Ich werde es nicht schaffen.
Generell. Morgens aufzustehen. Drei Mal am Tag zu essen. Zu lieben. Nicht mehr zu lieben. Mir die Haare zu bürsten. Zu denken. Mich zu bewegen. Zu atmen. Zu lachen.
Manchmal kann sie es nicht verbergen, und das Geständnis rutscht ihr raus, wenn sie die Galerie betritt.
Wie fühlst du dich?
Ich werde es nicht schaffen.
Kamel und Élise lachen oder zucken mit den Schultern. Sie haben nicht die geringste Ahnung. Naïma betrachtet sie, wie sie im Ausstellungsraum umhergehen, in ihren Bewegungen von den Exzessen des Vorabends kaum beeinträchtigt und unbehelligt von der Erkenntnis, die Naïma Qualen bereitet: Der Alltag ist eine höchst anspruchsvolle Disziplin, und sie hat sich gerade disqualifiziert.
Da sie nichts schafft, darf an den verkaterten Tagen auch nichts sein. Nichts Gutes, das nur verdürbe, und nichts Schlechtes, das auf keinen Widerstand träfe und alles im Innersten zerstörte.
Das Einzige, was die verkaterten Tage dulden, das sind Nudeln mit ein wenig Butter und Salz: beruhigende Mengen und ein neutraler Geschmack, fast nicht existent. Und Fernsehserien. Oft war in den letzten Jahren von den Kritikern zu hören, dass wir einen außergewöhnlichen Wandel erlebten. Dass die Fernsehserien in den Rang von Kunstwerken aufgestiegen seien. Dass das eine Sensation sei.
Vielleicht. Aber das ändert nichts an Naïmas Auffassung, dass sich die wahre Existenzberechtigung der Fernsehserien aus den verkaterten Sonntagen ergibt, die es irgendwie zu füllen gilt, ohne vor die Tür zu gehen.
Der folgende Tag ist jedes Mal ein Wunder. Wenn der Lebensmut zurückkehrt, der Eindruck, man könne etwas bewerkstelligen, dann ist das wie eine Wiedergeburt. Wahrscheinlich ist die Existenz dieser folgenden Tage der Grund, warum sie erneut trinkt.
Es gibt die auf die Besäufnisse folgenden Tage - den Abgrund.
Und die auf die folgenden Tage folgenden Tage - die Freude.
Der Wechsel zwischen beiden schafft einen fortwährend bekämpften Mangel an Stabilität, der Naïmas Leben prägt.
An diesem Morgen erwartet sie den folgenden Morgen wie gewöhnlich und so, wie die Ziege von Monsieur Seguin die Sonne erwartet.
Von Zeit zu Zeit sah die Ziege des Monsieur Seguin die Sterne am klaren Himmel tanzen und sprach zu sich: »Ach! Könnte ich es doch bis zur Morgenröte aushalten!«
Und dann, während ihre erloschenen Augen sich im Schwarz des Kaffees verlieren, in dem sich die Deckenleuchte spiegelt, erscheint verstohlen ein zweiter Gedanke neben dem ersten, dem parasitären und