Mit einer klugen Parabel auf das heutige Russland legt der Kritiker und Dichter Alexej Parin seinen ersten Roman vor.
Die russische Stadt Leonsk blickt auf eine eindrucksvolle Geschichte zurück: Einst von venezianischen Adelsfamilien gegründet, entwickelte sie sich zu einer Hochburg der Kunst, Musik und Bildung. Doch noch etwas zeichnet die märchenhafte Stadt und ihre Bewohner aus: Sie haben Zwerglöwen aus Venedig mitgebracht, die in Leonsk heimisch geworden sind. Die sanften und intelligenten Leoncini wurden zum Wahrzeichen der Stadt und ein Symbol ihrer Unabhängigkeit. Doch die Zwerglöwen sind in Gefahr - und mit ihnen die Freiheit von Leonsk. Der undurchsichtige Bürgermeister lässt die Statuen der Löwen in der Stadt demontieren, bald darauf kommt es zu einem folgenreichen Anschlag auf die Tiere und ihre Besitzer und in Leonsk bleibt nichts von der einstigen Größe zurück.
Alexej Parin, geboren 1944 in Moskau, arbeitet international als Librettist, Opernkritiker, Dramaturg und Dichter. In seiner Übersetzung erschienen Werke europäischer Dichter von der Antike bis zur Gegenwart, von Sappho und Ovid bis Paul Celan und Jacques Roubaud. Die Anthologie Der verliebte Wanderer. Westeuropäische Lyrik in Nachdichtungen von Alexej Parin (2004) versammelt Parins Lyrik-Übersetzungen. Seit 20 Jahren gestaltet er Musik-Features für die Radiostationen Echo Moskwy und Orpheus.
Zuletzt veröffentlichte er im Hollitzer Verlag den Band 'Paradigmen der russischen Oper' und die Essaysammlung 'Die Brille
des Coppelius'. 'Die Chroniken von Leonsk' ist sein erster Roman.
Autorentext
Alexej Parin, geboren 1944 in Moskau, arbeitet international als Librettist, Opernkritiker, Dramaturg und Dichter. In seiner Übersetzung erschienen Werke europäischer Dichter von der Antike bis zur Gegenwart, von Sappho und Ovid bis Paul Celan und Jacques Roubaud. Die Anthologie Der verliebte Wanderer. Westeuropäische Lyrik in Nachdichtungen von Alexej Parin (2004) versammelt Parins Lyrik-Übersetzungen. Seit 20 Jahren gestaltet er Musik-Features für die Radiostationen Echo Moskwy und Orpheus.Zuletzt veröffentlichte er im Hollitzer Verlag den Band "Paradigmen der russischen Oper" und die Essaysammlung "Die Brilledes Coppelius". "Die Chroniken von Leonsk" ist sein erster Roman.
Leseprobe
WER ICH BIN
Nun ist es an der Zeit, dass ich mich vorstelle. Ich sitze auf der Terrasse meines Hauses im Schwarzwald, bei Freiburg, und betrachte die Lärchen, die unmittelbar vor mir auf der Wiese stehen. Ich weiß nicht, ob sie von einem früheren Besitzer gepflanzt wurden oder von allein gewachsen sind, aber sie bilden eine schnurgerade Linie. Hoch wie Küstentannen. Und jedes Mal, wenn ich sie anschaue, möchte ich wissen, warum sie so unterschiedlich sind. Da, die eine: Neben dem eigentlichen Stamm hat sie einen zweiten, viel dünneren, wobei sich die Stämme direkt bei den Wurzeln entzweien. Bis zur Hälfte seiner Höhe hat der dünne Stamm keine Äste, die sind alle abgefallen, und erst ganz weit oben (ich kann es kaum erkennen, weil es mir schwer fällt, längere Zeit nach oben zu sehen) hat er vollwertige, lange Äste mit langem Nadelkleid, die alle in dieselbe Richtung wachsen. Zwei andere Lärchen, die zweite und die dritte, wenn man von der Terrasse aus zählt, haben jeweils nur einen Stamm; sie sind gleich alt, und dennoch ist die zweite spindeldürr und die dritte vollschlank, man möchte sagen - üppig, sinnlich, wie eine Rubensfrau. Am Ende kommt eine vierte, die aus irgendwelchen Gründen gleich drei Stämme hat; sie teilt sich auf circa zehn Meter Höhe in zwei ebenmäßige Zylinder von gleicher Breite auf, von denen sich einer etwa fünf Meter weiter oben nochmals entzweit. Und es ist offensichtlich, dass sich alle drei Stämme ganz prächtig vertragen. Ich habe eine Tendenz zur Alltagsphilosophie, und wenn ich diese Lärchen anschaue, muss ich jedes Mal darüber nachdenken, dass sie wie Menschen sind und dass auch ihr Leben trotz gleicher Wurzeln völlig unterschiedlich verläuft.
Ich bin Deutscher und neunzig Jahre alt. Geboren wurde ich 1923 als Heinrich Lenroth, mein Kosename ist Hanny. Ich habe diesen Kosenamen von zwei russischen Mädchen in sowjetischer Kriegsgefangenschaft bekommen und sollte ihn auch später in Deutschland behalten, und es war kein Zufall, wie Sie erfahren werden.
Ich muss bei dieser Gelegenheit zugeben, dass ich auf Deutsch schreibe, weil ich trotz meiner fast zwanzig Jahre in Leonsk nicht sehr gut Russisch kann. Was Sie hier lesen, ist eine Stegreifübersetzung. Sobald ich ein Kapitel fertig geschrieben habe, gebe ich es an einen Freund weiter, der aus Leonsk geflüchtet ist, nachdem dort die ganze schreckliche Geschichte passiert war - so wie ich auch. Er ist Russe, spricht aber Deutsch wie ein Muttersprachler, und ich vertraue ihm voll und ganz. Er heißt Mitja - Dimitrij Bibikow. Er ist Komponist, hat aber eine ausgeprägte literarische Ader. Mir ist bewusst, dass ich ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert bin, weil ich seine Übersetzung nicht überprüfen kann, aber er versprach mir, nichts an meiner Erzählung zu verändern oder zu korrigieren, obwohl er alles vom Anfang bis zum Ende selbst erlebt hat. Sollten Sie aber dennoch etwas Verdächtiges oder Unpassendes feststellen, behalten Sie bitte stets im Hinterkopf, dass der Text, den Sie da lesen, nicht von mir stammt, sondern von Mitja. In meinem Alter ist es schwierig, jemanden zu finden, der die Übersetzung mit dem Original abgleichen könnte. Das wird erst nach meinem Tod geschehen, und dann hat Mitja gegebenenfalls das Nachsehen.
Warum ich Ende der 1980er-Jahre nach Leonsk gezogen bin? Ihre Frage ist vollkommen berechtigt. Deshalb unterbreche ich meinen Bericht ja auch schon zum zweiten Mal: damit Sie erfahren, wer Ihnen diese wahre Geschichte erzählt und warum keiner sie, wie ich schon sagte, besser erzählen könnte. Die 'wahre Geschichte' ist ein abgewandeltes Zitat: So lautet der Titel eines Versromans des mittelalterlichen Dichters Guillaume de Machaut, der von der Liebe eines alten Mannes zu einem jungen Mädchen handelt, Le Livre du Voir-Dit ("Das Buch von der wahren Dichtung"). Es bleibt bis heute unbekannt, ob der alternde Dichter im fernen 14. Jahrhundert diese w