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Die gebürtige Ungarin Agota Kristof legt einen Roman vor, der das Thema der Identitätssuche in einer gefühlskalten Welt behandelt. Sie erzählt die Geschichte einer unmöglichen Liebe. Sandor, der vereinsamte im Exil lebende ungarische Fabrikarbeiter, trifft die Frau, die seinem Leben einen Sinn geben könnte: die ehemalige Mitschülerin Line. Aber ein dunkles Geheimnis verbindet die beiden, und nur kurz ist die Zeit, in der Sandor so etwas wie Glück erlebt.
Agota Kristof, geboren 1935 in Csikvánd in Ungarn, verließ ihre Heimat während der Revolution 1956 und gelangte über Umwege nach Neuchâtel in die französischsprachige Schweiz. Als Arbeiterin in einer Uhrenfabrik tätig, erlernte sie die ihr bis dahin fremde Sprache und schrieb auf Französisch ihre erfolgreichen Bücher, die in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt wurden. Sie wurde mit zahllosen Preisen geehrt wie 2001 mit dem angesehenen Gottfried-Keller-Preis, dem Österreichischen Staatspreis für Literatur sowie dem Kossuth-Preis in ihrem Geburtsland Ungarn. Agota Kristof starb Ende Juli 2011 nach längerer Krankheit in Neuchâtel.
Autorentext
Agota Kristof, geboren 1935 in Csikvánd in Ungarn, verließ ihre Heimat während der Revolution 1956 und gelangte über Umwege nach Neuchâtel in die französischsprachige Schweiz. Als Arbeiterin in einer Uhrenfabrik tätig, erlernte sie die ihr bis dahin fremde Sprache und schrieb auf Französisch ihre erfolgreichen Bücher, die in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt wurden. Sie wurde mit zahllosen Preisen geehrt wie 2001 mit dem angesehenen Gottfried-Keller-Preis, dem Österreichischen Staatspreis für Literatur sowie dem Kossuth-Preis in ihrem Geburtsland Ungarn. Agota Kristof starb Ende Juli 2011 nach längerer Krankheit in Neuchâtel.
Leseprobe
Die Flucht
Gestern wehte ein Wind, den ich kannte. Ein Wind, dem ich schon begegnet war.
Es war ein vorzeitiger Frühling. Ich ging im Wind, entschlossen, rasch, wie jeden Morgen. Doch gern hätte ich wieder im Bett gelegen, reglos, ohne Gedanken, ohne Wünsche, und wäre so lange liegengeblieben, bis ich jenes Etwas nahen fühlte, das weder Stimme noch Geschmack, noch Geruch ist, sondern nur ein vages Erinnern, das von jenseits der Grenzen stammt, bis zu denen das Gedächtnis zurückreicht.
Langsam ist die Tür aufgegangen, und meine herabhängenden Hände haben voll Schrecken das weiche, seidige Fell des Tigers gefühlt. »Musik!« sagte er. »Spielen Sie etwas! Auf der Geige oder auf dem Klavier. Lieber auf dem Klavier. Spielen Sie!«
»Ich kann nicht«, sagte ich. »Ich habe in meinem Leben noch nie Klavier gespielt, ich habe kein Klavier, ich habe nie eines gehabt.«
»Noch nie? Unfug! Gehen Sie ans Fenster und spielen Sie!«
Vor meinem Fenster war ein Wald. Ich habe gesehen, wie sich die Vögel im Geäst versammelten, um meine Musik zu hören. Ich habe die Vögel gesehen. Ihre kleinen geneigten Köpfe und starren Augen, die irgendwohin blickten, durch mich hindurch.
Meine Musik wurde immer lauter. Sie wurde unerträglich.
Ein Vogel fiel tot von einem Ast.
Die Musik hat aufgehört.
Ich habe mich umgedreht.
Mitten im Zimmer saß der Tiger und lächelte.
»Das reicht für heute«, sagte er. »Sie sollten öfter üben.«
»Ja, ich verspreche es, ich werde üben. Aber ich erwarte Besuch, bitte haben Sie Verständnis. Sie, meine Gäste, könnten sich darüber wundern, daß Sie hier bei mir sind.«
»Natürlich«, sagte er gähnend.
Auf weichen Tatzen ist er durch die Tür gegangen, und ich habe hinter ihm den Schlüssel zweimal umgedreht.
»Auf Wiedersehen«, rief er mir noch zu.
Line wartete, an die Mauer gelehnt, am Eingang der Fabrik auf mich. Sie sah so blaß und traurig aus, daß ich beschloß stehenzubleiben, um mit ihr zu sprechen. Trotzdem ging ich an ihr vorbei, ohne auch nur den Kopf zu ihr zu drehen.
Ein wenig später, als ich meine Maschine bereits in Gang gesetzt hatte, stand sie neben mir.
»Wissen Sie, es ist seltsam. Ich habe Sie nie lachen sehen. Ich kenne Sie seit Jahren. In all den Jahren, die ich Sie kenne, haben Sie nicht ein Mal gelacht.«
Ich habe sie angesehen und schallend gelacht.
»Mir ist es lieber, wenn Sie es nicht tun«, hat sie gesagt.
In diesem Augenblick habe ich große Unruhe verspürt und mich aus dem Fenster gelehnt, um nachzusehen, ob der Wind noch da war. Die Bewegung der Bäume hat mich beruhigt.
Als ich mich umdrehte, war Line verschwunden. Da sagte ich zu ihr:
»Line, ich liebe dich. Ich liebe dich wirklich, Line, aber ich habe keine Zeit, daran zu denken, es gibt so vieles, woran ich denken muß, an den Wind zum Beispiel, eigentlich müßte ich jetzt raus und im Wind Spazierengehen. Nicht mit dir, Line, sei mir deshalb nicht böse. Im Wind Spazierengehen kann man nur allein, weil es da einen Tiger gibt und ein Klavier, dessen Musik die Vögel tötet, und die Angst kann nur vom Wind verscheucht werden, das ist bekannt, ich weiß es seit langem.«
Die Maschinen rings um mich her stimmten ein Angelusläuten an.
Ich bin den Flur entlanggegangen. Die Tür stand offen.
Diese Tür stand immer offen, und ich hatte nie versucht, durch diese Tür hindurchzugehen.
Warum?
Der Wind fegte die Straßen. Die leeren Straßen kamen mir fremd vor. Ich hatte sie noch nie am Morgen eines Werktages gesehen.
Später habe ich mich auf eine Steinbank gesetzt und geweint.
Nachmittags schien die Sonne. Kleine Wolken eilten über den Himmel, und die Luft war sehr mild.
Ich bin in eine Kneipe gegangen, ich hatte Hunger. Der Kellner hat einen Teller Sandwiches vor mich hingestellt.
Ich habe mir gesagt:
»Du mußt gleich