

Beschreibung
Die Bioethik versucht Antworten auf zentrale Konflikte unserer Lebenswelt zu finden. Die akademisch ermittelten Ergebnisse kommen jedoch selten zum praktischen Einsatz. Es fehlt die Vernetzung zwischen Wissenschaft und Praxis. Tanja Krones zeichnet die Entwick...Die Bioethik versucht Antworten auf zentrale Konflikte unserer Lebenswelt zu finden. Die akademisch ermittelten Ergebnisse kommen jedoch selten zum praktischen Einsatz. Es fehlt die Vernetzung zwischen Wissenschaft und Praxis. Tanja Krones zeichnet die Entwicklung der Disziplin auf der Grundlage von Ethik, Philosophie und Gesellschaftstheorie nach und fragt nach dem zukünftigen Weg. Am Beispiel zentraler bioethischer Konflikte in der Fortpflanzungsmedizin und der Arzt-Patienten-Beziehung plädiert sie für eine kontextsensitive Bioethik, die über traditionelle Fächergrenzen hinaus eine dem Menschen nahe, praxisrelevante Bioethik in den Vordergrund rückt.
Vorwort
Kultur der Medizin
Autorentext
Tanja Krones, PD Dr. med., ist Medizinethikerin, Ärztin und Soziologin am Klinikum der Universität Marburg.
Leseprobe
Diese Annahme trifft aber aus Sicht des Pragmatismus und der kontextsensitiven Ethik nicht zu. Moralität ist ebenfalls routinisierte Handlung. Sein und Sollen stehen grundsätzlich in einer Wechselbeziehung, die historisch und sozial verwurzelt ist. Moralische Urteile unterscheiden sich daher nicht fundamental von nicht-moralischen Urteilen, haben nur, wie andere Handlungen und Urteile über Handlungen (Einkauf, Liebesakt, Vorlesung, Gebet) bestimmte Charakteristika. Sie beziehen sich auf bestimmte Aspekte des menschlichen Lebens und zwar darauf, wie wir uns situativ und insgesamt ein gutes Handeln und ein gutes Leben vorstellen. Moralität hat sowohl etwas mit sachlichen, abstrakten Prinzipien als auch mit genuinen Alterzwecken zu tun. Erstere leiten eher die Moralität aus der und in die Ferne, Konzepte zur guten Behandlung uns fremder Menschen an, sind zudem richtungsweisend in der Beurteilung von Situationen, in denen wir nicht direkt betroffen sind. Die Berücksichtigung von Alter-Zwecken, der Altruismus, ist für das gute Handeln konkreten Anderen gegenüber wichtig, in Situationen, in denen wir direkt betroffen sind, ist aber ebenso auch für die Fernethik relevant. Beide Elemente (Altruismus und allgemeine Prinzipien) verweisen auf bestimmte, zentrale anthropologische Momente: Erstens auf die Selbsttranszendenz, die nicht nur im Bereich der Moral, sondern auch in der Religiosität, der Phantasie und den (Tag-)Träumen zum Tragen kommt, sowie zweitens auf die Intersubjektivität des Menschen, die ihn neben seinem Vernunftvermögen, seiner Fähigkeit, sinnhaft, situativ angemessen rational-emotional zu handeln und zu entscheiden, fundamental bestimmt. Die menschlichen Routinen der gelebten Selbsttranszendenz und Intersubjektivität, die Ausrichtung an sachlichen und Alterzwecken statt an (rein) egoistischen Motiven, unsere moralischen Gewohnheiten unterliegen natürlich den selben Einflüssen, wie andere Handlungsgewohnheiten. Sie sind sozial mit geformt und durch unseren Charakter, unsere Entscheidungen, unsere kontinuierlichen Erfahrungen mit bestimmt. Eigen-, Fremd- und Sachzwecke sind dabei, wie ich unter 4.2. ausgeführt habe, nicht genuin voneinander zu trennen. Fremdliebe braucht Eigenliebe (Liebe deinen Nächsten wie dich selbst). Die Ehrfurcht vor dem Gesetz kommt vermehrt zum Tragen, wenn man selbst von Mitmenschen, die diesem Gesetz folgen, gut behandelt worden ist. Moralische Urteile über gutes Handeln und die guten Dinge aus der Sphäre anderer Urteile herauszuheben, da sie ganz andere Charakteristika hätten als nicht-moralische Urteile ist das, was Dewey als mental magic bezeichnet. Warum sollten nicht göttliche, menschliche Wesen nicht-menschliche Eigenschaften und übermenschliches Urteilsvermögen besitzen? Und wer sollte wie dazu befähigt worden sein? Es gibt real keinen idealen menschlichen Beobachter, keinen paradiesischen Schleier des Nichtwissens, auch wenn diese Denkfiguren für bestimmte Zwecke, nämlich das minimal zwischen uns Geltende festzulegen, als Mittel zur ethischen Reflexion durchaus nützlich sind. Dabei ist zu beachten, dass wir in diesen Unparteilichkeitsmodellen, wie ich unter 3.4. ausgeführt habe, prinzipiell egoistisch motivierte, völlig autonome Akteure sind, die aus der Ich-Perspektive urteilen, was nicht dem menschlichen Sein real und allgemeingültig entspricht, so dass diese Modelle aus kontextsensitiver Sicht durchaus problematisch sind. Daher muss - als eine bereits in der antiken Philosophie ausgesprochene Mahnung zur philosophischen Selbsterkenntnis und Bescheidenheit - die Unmöglichkeit der göttlichen (komplett unparteiischen, a-historischen, a-sozialen) Perspektive dem Präskriptionen erarbeitenden Menschen immer vor Augen bleiben. Man kann nicht Philosophie oder Soziologie betreiben, ohne eine Psycho-Sozioanalyse der eigenen Person selbstkritisch mit zu denken, um der Ideologiefalle zumindest teilweise zu entgehen und um der hohen Verantwortung der Wissenschaftler für die Gesellschaft - und nicht nur für seine eigene Karriere - gerecht zu werden. Bioethiker sollten daher ihre Eigenliebe aus sich heraus immer wieder zu kränken versuchen, unter anderem lernen, Fehleinschätzungen einzugestehen, statt die eigene Position immer und immer wieder zu verteidigen und die gegnerischen theoretisch-praktischen Positionen genauso wichtig nehmen wie den eigenen Ansatz. Eine Fehlerkultur ist in der Bioethik selbst noch kaum entwickelt, wird aber von ihr der Medizin, dem Handlungsfeld gegenüber, eingefordert. Wir müssen unter anderem beachten, dass wir verschiedene Attributionsfehler machen, die wir aufgrund der Positionalität des menschlichen Erkenntnisvermögens überhaupt nicht umgehen können. Der grundlegendste ist der unter 4.2. beschriebene fundamentale Attributionsfehler, der dazu führt, dass Beobachter und Handelnde grundsätzlich anders attribuieren. Der Beobachter schlussfolgert eher auf Persönlichkeitsmerkmale, da er nicht die Erfahrungen der tatsächlichen situativen Flexibilität des Handelnden teilt und Menschen für menschliche Beobachter selbst dann, wenn sie körperlich abwesend sind, im Blickfeld stehen, da Personen und ihre Charaktereigenschaften und Ideen in der menschlichen Kognition zentrale mentale Anker bilden. Der Handelnde schlussfolgert eher auf den Einfluss situativer Merkmale, da er die Situation und nicht sich selbst primär im Blick hat (die Situation salienter ist). Auch weiss er aufgrund seiner Erfahrungen, dass er multiple Gewohnheiten (verschiedene Strategien seines Habitus) beherrscht, die er situativ anwenden kann. Zudem ist es im Sinne der immer latent vorhandenen Verteidigungsmotivation der Identität bei einem möglicherweise schlechten Ausgang besser, auf die Situation statt auf den eigenen Charakter zu attribuieren. Nun werden einige einwenden, dass ethische Konflikte gerade dann entstehen und als solche empfunden werden, wenn die Alltagsroutinen durchbrochen werden und wir eben nicht genau wissen, wie wir handeln sollen. Damit erklären Marcus Düwell und Klaus Steigleder (2003b) die Entstehung des Fachs Bioethik und sehen dessen Aufgabe eben darin, für solche Situationen Präskriptionen auf der Basis formallogischen Denkens und ideengeschichtlichen Reichtums, bestärkt durch die Kenntnis objektiver Fakten, die durch die Juniorpartner geliefert werden, zu erarbeiten. Hinsichtlich der Entstehungsursache ethischer Konflikte ist ihnen aus kontextsensitiver Sicht - zum Teil - Recht zu geben. Das Bewusstsein für das Wegbrechen der Basissicherheiten ist gerade ein Signum der reflexiven Moderne. Insbesondere im Feld der Biomedizin werden die vormalig fraglosen Gegebenheiten, die Grenzziehungen brüchig. Dies wird unter anderem als ethischer Konflikt empfunden und hat die Bioethik als Fach mit entstehen lassen. Zum einen ist die Zerstörung von zuvor fraglosen Gegebenheiten aber nicht nur die einzige Ursache für die Entstehung ethischer Konflikte. Diese resultieren zum Beispiel auch aus der lauteren Artikulierung bereits existierender, aber illegitimer, unterdrückter Wissensarten und Werte gegenüber orthodoxen Normen und auch durch die Aufoktroyierung ethisch eindeutiger Prinzipi…
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