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Das Ruhrgebiet war für die Nationalsozialisten in den Jahren vor 1933 ein schwieriges Terrain. Um den zahlreichen Toten in den Auseinandersetzungen mit den Kommunisten scheinbar Sinn zu verleihen, wurden jene zu Märtyrern gemacht. Sarah Thieme zeigt eindrücklich auf, wie sich die regionale NS-Bewegung im Märtyrerkult als eigenständiger Glaubensanbieter positionierte und die Aktivisten mit Formen "sakralisierter Politik" ansprach. Zugleich belegt die Studie, dass die NS-Bewegung im Ruhrgebiet christlich geprägt blieb.
Religion und Moderne: Herausgegeben von Thomas Großbölting, Detlef Pollack, Barbara Stollberg- Rilinger und Ulrich Willems im Auftrag des Centrums für Religion und Moderne
»Sarah Thieme weist auf überzeugende Weise nach, dass die NS-Bewegung auf christliche Rituale, Akteure und Inhalte zurückgriff, um ihre eigenen Märtyrer zu propagieren und anschlussfähig an religiöse Milieus zu machen.« Jens Gründler, Westfälische Forschungen, 23.11.2020
Autorentext
Sarah Thieme, Dr. phil., ist Geschäftsführerin des Forschungsbeirates der Universität Münster.
Leseprobe
I. Einleitung "Man kann den moralischen Wert einer Idee, einer Bewegung, messen an der Art, wie sie ihre Märtyrer ehrt, und die Anteilnahme von Fernstehenden ist der spre-chendste Beweis für die Resonanz, die diese Idee im Volke hat." Mit diesem Satz leitete die nationalsozialistische National-Zeitung ihren Be-richt über die Beisetzung des verstorbenen SA-Mannes Wilhelm Sengotta aus Dortmund-Wickede im Februar 1932 ein. Der 21-jährige Schlosser hatte sich gemeinsam mit einigen Sturmkameraden auf dem Heimweg von seinem SA-Dienst befunden, als sie in einen kommunistischen Hinterhalt gerieten. Dabei sei Sengotta erschossen worden. Das vorangestellte Zitat verweist auf die hohe Bedeutung, die die lokale NS-Bewegung in Dortmund der von ihr praktizierten Märtyrerverehrung zusprach: Erst wenn diese, wie im Falle des verstorbenen Sengotta, gelang, wurde der hohe "moralische Wert" der eigenen Weltanschauung sichtbar, für die sich der Tote vermeintlich geopfert hatte. Die gelungene Märtyrerverehrung umfasste in Wickede eine groß inszenierte Aufbahrung und Beisetzungsfeier unter Beteiligung eines evangelischen Geistlichen mit etwa 3.000 Teilnehmern. Überdies wurde der SA-Sturm 7/I/98 dem Namen des Verstorbenen geweiht. Außerdem wurde in den Jahren nach der sogenannten NS-"Machtergreifung" eine Dortmunder Straße nach ihm benannt, ein Gedenkstein am vermeintlichen Tatort errichtet und eingeweiht sowie jährlich wiederkehrende Gedenkfeiern an seinem Todestag gefeiert. Diese nationalsozialistische Selbstbeschreibung ist Ausgangspunkt für die vorliegende Studie, die den nationalsozialistischen Märtyrerkult analy-siert. Unter einem Kult ist die "Gesamtheit religiöser Praxis im Umgang mit spirituellen oder mit besonderen Zuschreibungen versehenen We-sen" sowie Verehrungshandlungen gegenüber Menschen mit "numinosen Qualitäten" zu verstehen. Wesentliche Bestandteile eines Kultes sind nach der Religionswissenschaftlerin Dorothea Baudy folgende: Mythenerzäh-lungen und -inszenierungen sowie alle Formen religiösen Verhaltens, ins-besondere Rituale, deren Ausübung häufig an heilige Stätten und heilige Zeiten gebunden ist. "Im Kultakt konstituieren sich die Teilnehmer als zusammengehörige, aber hierarchisch differenzierte Gemeinde." In ihren (auch sprachlichen) Handlungen entwerfen sie "die Vorstellungen, die sie sich vom Adressaten ihres Kultes [] machen". Émile Durkheim hält pointiert fest, dass ein Kult aus Überzeugungen und Ritualen besteht. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich folglich mit der posthumen mythischen Konstruktion von SA- und SS-Männern als "Märtyrer der Bewegung" und deren praktischer Verehrung durch kultische Handlungen sowie die eingesetzten Sakralisierungsstrategien durch die nationalsozialistische Bewegung in den Jahren 1929-1939. Ziel der Untersuchung ist es, einen religionsgeschichtlichen Beitrag zur Charakterisierung regionaler NS-Bewegungen zu leisten. Gefragt wird nach der Erzeugung von spezifischem commitment , das heißt der besonde-ren Hingabe, der hohen Motivation und Begeisterungsfähigkeit ihrer Akti-visten. Spezifische Bedeutung wächst dem commitment der Akteure sozialer Bewegung zu, da jene "keine anderen Ressourcen [besitzen] um ihre Akteure langfristig an sich zu binden, und zu motivieren, als das zu tun, was die Individuen und Einzelgruppen in der Bewegung wünschen und wollen. Deren Engagement müssen sie über inneres commitment erlangen." Um den freiwilligen Einsatz ihrer Anhänger, der das entscheidende Kapitel sozialer Bewegungen darstellt, zu produzieren und zu erhalten, wird in der Handlungspraxis sozialer Bewegungen, laut Dieter Rucht und Friedhelm Neidhardt, commitment verlangt und bekräftigt. Zudem werden Motive und Interessen der Akteure eingebunden. Dementsprechend beschäftigt sich die vorliegende Arbeit mit Motivationen, kollektiven Identitätsstiftungsangeboten und der Integration der nationalsozialistischen Bewegungsmitglieder. Zentrale Ausgangsüberlegung ist dabei, dass sakrale Elemente in der Politik einen entscheidenden Faktor zur Ansprache und Einbindung der NS-Bewegungsmitglieder ausmachten. Sie werden im Märtyrerkult erkennbar. Sakralisierungen konnten commitment erzeugen und unterstützen, wenn sie kollektive Gläubigkeiten ansprachen. Damit konnte ein attraktives Ange-bot geschaffen werden, das sinnstiftende Antworten innerhalb des breiten Feldes von Gläubigkeiten in der NS-Zeit bot. Hierfür werden die Märty-rerverehrung, die konstruierten Mythen, die um diese initiierte Glaubenspraxis sowie die eingesetzten Sakralisierungsstrategien analysiert. Neben vielfältigen Sakraltransfers, die zur Ausbildung einer eigenen, nationalsozialistischen Sakralsphäre beitrugen, kennzeichneten den sakralisierten Politikstil des Nationalsozialismus zahlreiche christliche Inhalte sowie die Einbindung kirchlicher Akteure und Rituale. Unter der Prämisse, dass Sakralisierungen eine Kulturtechnik und daher von Menschen gemacht sind, kann es im empirischen Zugriff nur darum gehen, die Praxis der Märtyrerverehrung kulturwissenschaftlich und religionssoziologisch zu untersuchen. In der vorliegenden Studie werden folglich Techniken und Strategien analysiert, mit denen nationalsozialistische Akteure der verschiedenen Hierarchieebenen im lokalen Kontext politische Entitäten heiligsprachen, Grenzen zum Profanen zogen, das Sakrale mit besonderen Zeichen und Symbolen umgaben und sakrale Orte für die Verehrung schufen. Es wird gezeigt, wie sie Märtyrermythen konstruierten, sich dem "Geheiligten" gegenüber speziell - ritualisiert und festlich - verhielten und damit eine Sakralgemeinschaft aus der "liturgischen Masse" der aktiven Teilnehmer schufen. Besonders die Implementierung einer sakralen Aura durch die Glaubenspraxis - durch Liturgie und rituelle Ausformungen der Verehrung - wird in den Fokus genommen. Damit werden kollektive Wertvorstellungen, Selbst-Konzepte, Identitätsentwürfe sowie Gläubigkeiten der lokalen NS-Bewegungen über die Angebotsseite und den Ritualvollzug analysiert. Von besonderer Relevanz ist es zudem, das Verhältnis zu den etablier-ten christlichen Kirchen im Kontext der Märtyrerverehrung zu untersu-chen, da die NS-Bewegung mit ihrer sakralisierten Politik mit diesen in Konkurrenz um eine absolute, sinnstiftende Lösung der Kontingenzprob-lematik trat. In jenem Spannungsfeld zwischen Konkurrenz, Koexistenz und Kooperation ist auszuloten und zu prüfen, inwiefern Mythen und Glaubenspraxis mit christlichen Elementen verwoben waren. Insbesondere folgende Teilfragestellungen gilt es zu klären: Welche Sakralisierungsstrategien wandten die NS-Funktionsträger vor Ort im Rahmen des Märtyrerkultes an? Welche Glaubensangebote wurden darin unterbreitet? Welche sakral-politischen Elemente wurden in die Märtyrerverehrung eingebunden?…
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