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Haude und Wagner rufen in Erinnerung, dass es in der Geschichte und bis heute nicht-staatlich organisierte Gesellschaften in allen Erdteilen gibt, die egalitär sind. Sie existieren oft über mehrere Jahrzehnte hinweg und bilden ihre eigenen stabilisierenden, herrschaftsfreien Institutionen aus. Über diese Institutionen informiert das Buch anhand von praktischen Beispielen wie besonderer Haus- und Dorf-Architektur, ihrer Reproduktionsformen oder auch Alltagspraxen in Form von nivellierenden Spielen.
Sind stabile herrschaftsfreie Gesellschaften denkbar? Haben staatslose Gesellschaften Jahrzehnte und länger überdauert und existieren sie noch immer? In den Sozialwissenschaften herrscht die Tendenz vor, »Regulierten Anarchien« entweder keinen politischen Stellenwert beizumessen oder ihnen doch eine verborgene Herrschaftlichkeit zu unterstellen. Mit beiden (ethnologischen bzw. historischen) Argumenten lässt sich die angebliche Unmöglichkeit von Herrschaftsabbau heute behaupten. Die Beiträge dieses hier in zweiter, durchgesehener Auflage vorliegenden Bandes setzen sich kritisch mit dieser Auffassung auseinander und zeigen an Beispielen wie Verwandtschaftsstruktur, Architektur und Spiel sowie dem altisraelitischen Glaubenssystem: Gerade primitive Gesellschaften besaßen eine erstaunliche institutionelle Phantasie, um Herrschaftsfreiheit und egalitäre Verhältnisse dauerhaft sicherzustellen. Die beiden Verfasser Rüdiger Haude und Thomas Wagner sind Kulturwissenschaftler. Die Aufsätze von Haude und Wagner sind ein bedeutender Beitrag zur Weiterentwicklung der vorliegenden Anarchie-Theorien (aus dem Vorwort von Christian Sigrist).
Leseprobe
Einleitung In der Frühphase der spanischen Conquista in Mittelamerika referierte der Bakkalaureus Fernandez de Encisa die Antwort zweier Kaziken auf seine obligatorische Verlesung des Requerimiento, jenes Papiers, mit dem die Spanier den Eingeborenen ihren Herrschaftsanspruch erklärten und deren Unterwerfung einforderten: [Auf meine Ausführungen], daß es nicht mehr als einen Gott gebe und daß er über Himmel und Erde regiere und der Herr aller sei, sagten sie, das erscheine ihnen richtig und müsse wohl so sein; was aber den Papst betraf, daß er an Stelle Gottes Herr des ganzen Universums sei und den König von Kastilien mit diesen Ländern hier belehnt habe, dazu meinten sie, der Papst müsse besoffen gewesen sein, als er dies tat; denn er verteilte, was ihm nicht gehörte, und der König, der das Lehen erbeten und angenommen habe, müsse ein Narr sein, denn er fordere etwas, was anderen gehöre; er solle nur hierher kommen, um es in Besitz zu nehmen: dann würden sie seinen Kopf auf einen Pfahl stecken (Zitiert nach Engl/Engl 1991: 64). Der absurden Anmaßung des Abkömmlings europäischer Zivilisation antworten die Barbaren mit kausalen Deduktionen von logischer Stringenz. Ihr fröhliches Selbstbewusstsein verkennt freilich, dass die frühen Conquistadoren zwar nicht unbedingt Meister im Felde der Herrschaftslegitimation waren, dieses Defizit jedoch durch die Brachialität ihres Terrors mehr als aufzuwiegen verstanden. So wie Fernandez de Enciso an die Evidenz des von ihm vorgetragenen Requerimientos geglaubt haben mag, so hat man es auch heute - nicht zuletzt in sozialwissenschaftlichen Diskursen - oft mit Scheinevidenzen zu tun, wenn es um die Frage der Möglichkeit herrschaftsfreien Zusammenlebens geht: Herrschafts-Ontologisierung sitzt tief - Jahrtausende tief (vgl. vor allem Kap. 1). Was wir in diesem Buch unternehmen, ist der Versuch, sozusagen die Rolle der beiden Kaziken zu übernehmen und einige eingeschliffene Selbstverständlichkeiten infrage zu stellen. Von barbarischen, wilden bzw. primitiven Völkern können wir dabei nicht nur einen vom Ballast jahrtausendelanger abendländischer politischer Philosophie unbeschwerten (und, wie wir im einleitenden Zitat gesehen haben: realitätstüchtigeren) Blick auf Fragen des Machtumgangs lernen, sondern auch eine faszinierende Kreativität institutioneller Lösungen des Problems ablesen, herrschaftsfreie Gesellschaften zu stabilisieren. Wenn wir uns in den Kapiteln 3-7 einigen dieser Lösungsmechanismen zuwenden, so soll dies nicht nur ein exotisches Unterfangen sein; es geht uns vielmehr um die Anregung von Phantasie im Hinblick auf die Frage, wie in unseren gegenwärtigen Gesellschaften der Abbau von Herrschaft ermöglicht werden kann. Dabei handelt es sich schon deshalb nicht um ein plattes Zurück-zur-Natur-Programm, weil wir eben durchgängig kulturelle Phänomene in den Blick nehmen. Und überdies ist kein Zurück in dem Sinne intendiert, dass nun irgendeine institutionelle Struktur eins zu eins auf nachindustrielle Gesellschaften applizierbar wäre. Aber das Mindeste, was zu leisten ist, ist der empirische Nachweis der anthropologischen Möglichkeit herrschaftsfreien Zusammenlebens. Inwiefern einzelne Mechanismen aus primitiven Gesellschaften Lösungen in modernen, hochkomplexen Gesellschaften anregen können, mag sich am Ende unseres Unternehmens klarer zeigen, von dessen Anfangsphase dieses Buch Rechenschaft ablegt. Wenn wir die Suche nach institutionellen Lösungen für das Ziel einer Minimierung von Herrschaft in unserer eigenen Gesellschaft unterstützen wollen, dann wäre es jedenfalls töricht, den reichhaltigen Fundus bereits durchgespielter Lösungen mit dem bloßen Hinweis auf deren Primitivität vom Tisch zu wischen. Mit Gewissheit können wir vielmehr einiges über die Bedingungen lernen, die erfüllt sein müssen, um die zur Herrschaft tendierende Macht institutionell zu bändigen. Es ist auch nicht ausgemacht, ob nicht einzelne Mechanismen etwa im Eigentumsrecht - der Pfeiltausch der wildbeutenden San (vgl. Luig 1995: 107); die systematische Deflation durch das israelitische Jubeljahr - unsere Phantasie auch konkret anregen dürften. Die fraktale politische Struktur typischer segmentärer Gesellschaften z.B. (Kap. 3) wäre, losgelöst vom verwandtschaftlichen Generierungsprinzip, durchaus erwägenswert für moderne politische Lösungen des Herrschaftsverhinderungsproblems. Aber primär geht es uns darum zu zeigen, dass es überhaupt lohnt, sich diesem Problem zu stellen und damit dem allseits grassierenden Fatalismus zu entgehen. Auch insoweit ist es motivierend festzustellen, dass der Geist jener zwei panamaischen Kaziken offenbar auch nach jahrhundertelanger herrschaftlicher Überformung noch gegebenenfalls aktualisierbar ist. Denn manche antikolonialistischen Befreiungsbewegungen der jüngeren Vergangenheit zeigten, dass traditionelle Formen radikaler Demokratie mit modernen Emanzipationsbewegungen fruchtbare Verbindungen eingehen können. So macht seit 1994 mit der zapatistischen EZLN im mexikanischen Chiapas eine indigene Demokratiebewegung auf sich aufmerksam, die gerade auch durch ihr explizites Anknüpfen an radikaldemokratische Formen indianischer Dorfgemeinden mehr zum Aufbrechen der bürokratisch gestützten Klassenstrukturen beiträgt als die seit einem Dreivierteljahrhundert regierende Partei der institutionalisierten Revolution. Angesichts dieser sozialen Realitäten ist es schwer erträglich, immer wieder zu erfahren, welche anthropologischen Schludrigkeiten sich sozialwissenschaftliche Autoren erlauben, die eigentlich eine emanzipatorische Zielsetzung verfolgen. Wenn man etwa, wie Horkheimer und Adorno (1981: 98) vom Schlagen und Beißen beim Geschlechtsakt der australischen Wilden schreibt, welches noch in der sublimiertesten Zärtlichkeit durchscheine, dann ist es freilich verständlich, dass man am Streben nach menschlicher Autonomie desperat wird. Nur ist eine solche Unterstellung bezüglich der Australier eben kaum empiriehaltig, ebenso wenig wie Freuds hobbistische Urhorde, an die sie wahrscheinlich anknüpft. Die Primitiven mögen (teilweise) Barbaren im Sinne des Evolutionismus Morganscher Spielart gewesen sein; Barbaren im Sinne der Dialektik der Aufklärung waren sie kaum. Uns scheint eher, dass Pierre Clastres' Projekt einer kopernikanischen Wende den Versuch lohnt, wonach in der An…