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Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie
»Entfremdung« beherrschte als gesellschaftskritischer Begriff die von Marx inspirierten Diskussionen der Studentenbewegung, war zuletzt jedoch aus dem Repertoire kritischer Gesellschaftsanalyse verschwunden. Rahel Jaeggi eignet sich den Begriff zur Benennung gegenwärtiger Lebensrealität neu an: Für sie bedeutet er Indifferenz und Entzweiung, Machtlosigkeit und Beziehungslosigkeit sich selbst und einer als gleichgültig und fremd erfahrenen Welt gegenüber. In anschaulichen Analysen macht sie den Begriff der Entfremdung wieder fruchtbar, um eine kollektive und individuelle Befindlichkeit zu beschreiben, nach der wir uns nicht als autonom gestaltende Subjekte unserer Existenz erfahren, sondern der Dynamik uns bestimmender Zwangsverhältnisse ausgeliefert sind.
Autorentext
Rahel Jaeggi, Dr. phil., ist Hochschulassistentin am Philosophischen Institut der Universität Frankfurt am Main.
Leseprobe
Kaum ein Begriff hat das Schaffen der ursprünglichen Kritischen Theorie stärker und mit größerer Selbstverständlichkeit bestimmt als der der "Entfremdung ". Es war erst gar nicht nötig, den terminologischen Gehalt des Begriffs festzulegen oder zu umreißen, weil er als nahezu evidenter Ausgangspunkt aller gesellschaftstheoretischen Analysen gelten konnte: So undurchschaubar die sozialen Verhältnisse auch sein sollten, so sehr sie sich auch verkompliziert haben mochten, an der Tatsache ihrer entfremdeten Gestalt bestand unter Adorno, Marcuse und Horkheimer nicht der geringste Zweifel. Aus heutiger Sicht wirkt dieser theoretische Hintergrundkonsens mehr als befremdlich; denn die Autoren, allen voran Adorno, hätten doch wissen müssen, dass der Begriff auf Prämissen beruht, die ihren eigenen Einsichten in die Fallstricke vorschneller Verallgemeinerungen und Objektivierungen widersprechen. Der Begriff der Entfremdung, in seiner sozialphilosophischen Bedeutung ganz und gar ein Produkt der Moderne, setzt bei Rousseau nicht weniger als bei Marx und seinen Erben eine Wesensbestimmung des Menschen voraus: Das, was als entfremdet diagnostiziert wird, muss sich von etwas entfernt haben, demjenigen fremd geworden sein, was als die eigentliche Natur des Menschen, seine wahre Essenz gelten kann. Die philosophische Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat diesseits und jenseits des Atlantiks solchen essentialistischen Bestimmungen den Garaus gemacht; inzwischen wissen wir, dass wir auch dann, wenn wir bestimmte Universalien der menschlichen Natur gar nicht bezweifeln, von einem "Wesen" des Menschen, seinen "Gattungskräften" und originären Zielsetzungen nicht mehr in einem objektivistischen Sinn reden dürfen. Eine Folge dieser theoretischen Selbstkorrektur war das Verschwinden der Entfremdungskategorie aus der lebendigen Umgangssprache der Philosophie. Und in nichts mag sich die Gefahr des Veraltens der Kritischen Theorie deutlicher bekunden als im Ersterben ihres einstigen Schlüsselbegriffs. Gleichwohl hat es in den letzten Jahren nicht wenige gegeben, denen unserem philosophischen Vokabular etwas zu fehlen schien, wenn ihm der Begriff der Entfremdung nicht mehr zur Verfügung steht. Häufig kommen wir kaum umhin, individuelle Formen des Lebens als entfremdet zu beschreiben, nicht selten neigen wir dazu, gesellschaftliche Zustände nicht deswegen als verfehlt, als falsch zu betrachten, weil sie Prinzipien der Gerechtigkeit verletzten, sondern weil sie Bedingungen unseres Wollens und Könnens widersprechen. In derartigen Reaktionsformen auf Zustände unserer sozialen Umwelt scheinen wir auch dann unweigerlich stets wieder auf den Begriff der Entfremdung zurückzugreifen, wenn wir um seine essentialistischen Gefährdungen wissen; so veraltet die Rede von der Entfremdung auch sein mag, aus unserem diagnostischen, kritischen Vokabular ist sie offensichtlich nicht einfach wegzudenken. Die vorliegende Studie lässt sich als philosophische Verteidigung dieses unabgegoltenen Rechts der Entfremdungskategorie begreifen. Sie verfolgt die Absicht, den sozialphilosophischen Gehalt des gescholtenen Begriffs für die Gegenwart zu retten. Über die Schwierigkeiten, die ein solches Unterfangen mit sich bringen muss, ist sich die Autorin, Rahel Jaeggi, vollends im Klaren. Es bedarf bei einer Aktualisierung der Entfremdungskategorie ja nicht nur des begrifflichen Geschicks, ihren Bedeutungsgehalt so zu explizieren, dass er auch ohne essentialistische Voraussetzungen unverkürzt zur Geltung gelangen kann. Vielmehr muss darüber hinaus auch gezeigt werden, dass es für eine kritische Diagnose der Bedingungen unseres Zusammenlebens tatsächlich unverzichtbar ist, vom Begriff der Entfremdung Gebrauch zu machen. Bei der Bewältigung der ersten Aufgabe kommt der Autorin die Tatsache entgegen, dass sie sowohl mit der klassischen Ideengeschichte des Entfremdungsbegriffs als auch mit den neueren, analytisch geprägten Diskussionen um die Konturen menschlicher Personalität und Freiheit gleichermaßen vertraut ist. Diese Kombination von Kenntnissen in zwei bislang eher getrennt gehaltenen Wissenssphären erlaubt es ihr, an dem klassischen Entfremdungsbegriff exakt die Stellen zu identifizieren, an denen durch den Einsatz formalerer Begriffe menschlicher Fähigkeiten die essentialistischen Konsequenzen vermieden werden können. In Hinblick auf die zweite Aufgabe kommt der Autorin zu Hilfe, dass sie über eine große Gabe zur phänomenologischen Vergegenwärtigung alltäglicher Lebenszusammenhänge verfügt. Diese Befähigung ermöglicht es ihr, bestimmte Szenerien menschlichen Verhaltens des Erstarrens, des Selbstverlustes oder der Vergleichgültigung so plastisch als Entfremdungsphänomene zu schildern, dass wir als Leser oder Leserin nachgerade genötigt werden, nach Möglichkeiten einer Wiedergewinnung des verpönten Begriffs zu suchen. Mit der Benennung dieser beiden Argumentationsquellen sind Strategie und Anlage der vorliegenden Studie umrissen: Während es in einem Vorlauf darum geht, die TraV O R W O R T 9 dition des Entfremdungsbegriffs historisch so zu vergegenwärtigen, dass mit den kategorialen Stärken zugleich auch die essentialistischen Voraussetzungen durchsichtig werden, soll im Hauptteil anhand der Schilderung von Typen individuellen Sich-selbst-Entfremdens das analytische Potential der neueren Bestimmungen menschlicher Freiheit dazu genutzt werden, einen vom essentialistischen Makel befreiten Begriff der Entfremdung zu etablieren. Wie deutlich und klar Rahel Jaeggi die Schwierigkeiten vor Augen hat, mit denen der klassische Begriff der Entfremdung behaftet war, zeigt ihre historische Vergegenwärtigung in souveräner Übersichtlichkeit. Hier werden mit Mut zur pointierten Darstellung im Ausgang von Rousseau die zwei Traditionslinien skizziert, auf denen die Pathologien des modernen Lebens mehr oder weniger ausdrücklich stets als Vorgänge der Entfremdung analysiert wurden: Bei Marx und seinen Erben, die gemeinsam an Hegel anschließen, wird dabei unter "Entfremdung" die sozialstrukturell, zumeist ökonomisch erzwungene Verhinderung einer Aneignung der menschlichen Gattungskräfte verstanden, bei Kierkegaard und Heidegger hingegen, der "existentialistischen" Linie, die wachsende Verunmöglichung der Rückkehr aus dem Allgemeinen in die selbstgewählte, authentische Individualität. In beiden Fällen wird, so heißt es bei Rahel Jaeggi prägnant, als Kern aller Entfremdung begrifflich eine "Beziehung der Beziehungslosigkeit" ausgemacht, nämlich ein mangelndes, gestörtes Verhältnis zu dem Verhältnis, in dem als Kooperation oder als Selbstbezug die eigentliche Natur des Menschen besteht. Von hier aus ist leicht zu erkennen, inwiefern sowohl in der marxistischen als auch in der existentialistischen Tradition eine objektivistische Bestimmung des menschlichen Wesens die normative Grundlage der Entfremdungsdiagnose bildet: Dort als Arbeitsbeziehung gedacht, hier als eine spezifische Form der Innerlichkeit gef…