

Beschreibung
Schweden war lange Zeit unangefochtenes Vorbild für sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten. Doch seit den 1990er-Jahren finden auch dort Staatsabbau, Privatisierungen sowie eine Risikoverlagerung vom Staat auf das Individuum statt. Schweden entwickelt sich in R...Schweden war lange Zeit unangefochtenes Vorbild für sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten. Doch seit den 1990er-Jahren finden auch dort Staatsabbau, Privatisierungen sowie eine Risikoverlagerung vom Staat auf das Individuum statt. Schweden entwickelt sich in Richtung eines liberalen Modells mit staatlicher Grundsicherung und privater Aufstockung. Die Analyse von Finanzkrisen, Reformmaßnahmen und Transformationsprozessen der politischen Ökonomie Schwedens von 1970 bis heute öffnet den Blick für die Debatten über die Schuldenkrise des Staates und den institutionellen Wandel in entwickelten Wohlfahrtsstaaten.
Autorentext
Philip Mehrtens ist wiss. Mitarbeiter am MPI für Gesellschaftsforschung in Köln.
Klappentext
Schweden war lange Zeit unangefochtenes Vorbild für sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten. Doch seit den 1990er-Jahren finden auch dort Staatsabbau, Privatisierungen sowie eine Risikoverlagerung vom Staat auf das Individuum statt. Schweden entwickelt sich in Richtung eines liberalen Modells mit staatlicher Grundsicherung und privater Aufstockung. Die Analyse von Finanzkrisen, Reformmaßnahmen und Transformationsprozessen der politischen Ökonomie Schwedens von 1970 bis heute öffnet den Blick für die Debatten über die Schuldenkrise des Staates und den institutionellen Wandel in entwickelten Wohlfahrtsstaaten.
Leseprobe
Kapitel 1 Einleitung Der wechselseitige Funktionalzusammenhang zwischen Staatsfinanzen und gesellschaftlicher Entwicklung ist es aber, aus dessen genauester Analyse heraus allein die Eigenart des Charakters des Staates in jeder historischen Phase erkannt zu werden vermag. Rudolf Goldscheid ([1917]1976b: 49) 1.1 Problemaufriss, Forschungsfrage und Aufbau der Arbeit Die Staatsverschuldung der entwickelten kapitalistischen Demokratien hat im Jahr 2012 einen neuen Rekordstand erreicht. Im Durchschnitt aller OECDLänder lag die Bruttoschuldenquote der öffentlichen Haushalte bei 108,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Der Schuldenstand der Staaten übertrifft damit die gesamte Wirtschaftsleistung, die die Volkswirtschaften zusammen innerhalb eines ganzen Jahres erbringen. Dieser Entwicklungstrend ist kein neues Phänomen, sondern besteht bereits die letzten vier Dekaden. Seit 1970 gibt es einen klaren und kontinuierlichen Anstieg der Staatsschulden, die sich im Durchschnitt von circa 40 Prozent des BIP auf über 80 Prozent des BIP im Jahr 2008 verdoppelt haben. Aufgrund der aktuellen Finanzkrise und ihrer Folgen ist die öffentliche Neuverschuldung in den letzten Jahren geradezu explodiert: 2009 wurde eine durchschnittliche Schuldenquote von 90 Prozent des BIP überschritten, 2011 lag die Staatsverschuldung bereits erstmals über 100 Prozent des BIP und Prognosen sagen ein weiteres, wenn auch abgeschwächtes Wachstum der Staatsschulden voraus (OECD 2013a). Während es im "goldenen Zeitalter" nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu Beginn der 1970er-Jahre einen umfangreichen Abbau der Staatsverschuldung gab, hat sich dieser Trend seitdem in sein Gegenteil verkehrt und die durchschnittlichen Schulden der Länder sind rapide und in einem in Friedenszeiten bisher einzigartigen Ausmaß angestiegen. In der Geschichte hat es des Öfteren Verschuldungskrisen von Staaten gegeben (Reinhart/Rogoff 2009), allerdings waren sie fast immer mit militärischen Konflikten verknüpft und der hohe Schuldenstand wurde nach Kriegsende schnell wieder auf sein niedriges Ursprungsniveau zurückgeführt (Lambertini 2000: 3). Heute dagegen befinden sich viele entwickelte Demokratien unter dem Damoklesschwert einer permanenten Finanzierungslücke im Staatshaushalt und nehmen seit Jahrzehnten weniger ein, als sie ausgeben. Die Verschuldungskrise des Staates verschärft sich zunehmend und wird zu der bestimmenden Hintergrundgröße der Politik. Angesichts des Ausmaßes und der Dauer dieses Entwicklungstrends stellt sich die Frage nach den politischen und institutionellen Folgen der staatlichen Fiskalkrise. Die meisten Industriestaaten scheinen in einer Verschuldungsspirale gefangen zu sein, die sich mit jedem neuen Rekorddefizit schneller dreht. Droht als Folge der rasant wachsenden Staatsverschuldung ein Macht- und Souveränitätsverlust des Nationalstaates gegenüber anonymen Finanzmärkten und eine Aushöhlung der Demokratie, die zu einem "postdemokratischen" Schauspiel verkommt (Crouch 2008)? Hat das "Endspiel" für den demokratischen Interventionsstaat begonnen, der durch immer weiter wachsende Schuldenberge gelähmt wird (Streeck 2007)? Aktuelle Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass der Handlungsspielraum der Politik durch die ansteigende Staatsverschuldung abnimmt und aufgrund der finanzpolitischen Zwänge immer weniger Staatseinnahmen für gestaltende Politik zur Verfügung stehen. Die Lücke zwischen den verfolgten Zielen und verfügbaren Mitteln des modernen Interventionsstaates vergrößert sich stetig und chronisch gewordene Defizite werden zu einer beherrschenden Rahmenbedingung der Politik (Streeck/Mertens 2010: 4). Finanzstatistische Maßzahlen wie die Zins-Ausgaben-Quote, die Zins-Steuer-Quote oder die Kreditfinanzierungsquote weisen ebenfalls in die Richtung, "dass die Staatsverschuldung den Handlungsspielraum von Regierungen massiv einengt" (Wagschal/ Wenzelburger 2008a: 11). In einer umstrittenen, aber in Wissenschaft und Politik stark rezipierten Studie wird darüber hinaus behauptet, dass eine Staatsverschuldung von über 90 Prozent des BIP das Wirtschaftswachstum verlangsamt und damit eine Trendumkehr zusätzlich erschwert (Reinhart/Rogoff 2010). Unabhängig von einem bestimmten Schwellenwert können ein hoher Schuldenstand und große Haushaltsdefizite für ein Gemeinwesen besonders dramatisch werden, wenn internationale Geldgeber das Vertrauen in die Finanzierbarkeit der Schulden verlieren und erhebliche Zinsaufschläge verlangen oder überhaupt keine Kredite mehr vergeben. Analysen haben ergeben, dass Länder ab einem jährlichen Defizit von circa 10 Prozent des BIP deutlich höhere Zinsen zahlen müssen und es zum verstärkten Abfluss von Kapital kommt (Swank 2002). Politik findet so schnell in einem Kontext dauerhafter Austerität statt (Pierson 2001a). Sie wandelt sich unter diesen Rahmenbedingungen von der proaktiven Gestaltung der Gesellschaft durch staatliche Ausgaben zum Durchsetzen von Sparmaßnahmen - mit gravierenden Folgen für die Staatstätigkeit. Insbesondere die Sozialpolitik wird allein aufgrund ihrer Größe und der Tatsache, dass alle anderen Haushaltsposten bereits beschnitten wurden, voraussichtlich nicht mehr von Kürzungen verschont bleiben (Obinger 2012). Darüber hinaus zeichnet sich kein einfacher Ausweg aus der gegenwärtigen Verschuldungspraxis ab, weil die sozioökonomische Ausgangslage zur Steigerung des finanzpolitischen Handlungsspielraums für die entwickelten Staaten in jeder Hinsicht schlechter zu werden scheint. Die zunehmende Alterung der Bevölkerung, geringere Wachstumsaussichten der Wirtschaft, automatische Mehrkosten durch Politikerbe und Programmreifungen sowie verminderte Möglichkeiten der Besteuerbarkeit und staatlicher Kreditaufnahme erschweren den Schuldenabbau (Schick 2009: 3). Allerdings kann nicht in allen Ländern der gleiche Entwicklungsverlauf beobachtet werden. Obwohl es durchschnittlich einen starken Schuldenanstieg gibt, geht dieser nicht mit einer Konvergenz der Länder einher. Vielmehr nehmen die Unterschiede zwischen den Ländern zu. Es kommt mit der Zeit zu einer zunehmenden Spreizung zwischen hoch und niedrig verschuldeten Staaten. Die Spannweite zwischen dem geringsten und dem höchsten Schuldenstand hat sich während des Untersuchungszeitraums fast verdreifacht: von etwas weniger als 60 Prozentpunkten im Jahr 1970 auf fast 175 Prozentpunkte im Jahr 2012, und auch die Streuung um den Mittelwert nimmt zu: Die Standardabweichung verdoppelt sich während des Analysezeitraums (OECD 2013a). Einerseits wächst die Staatsverschuldung in der Mehrheit der entwickelten Länder kontinuierlic…
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