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Schriften aus dem Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln
Die letzten Jahrzehnte waren vielerorts durch einen außerordentlichen Anstieg privater Verschuldung gekennzeichnet, der nicht nur Wachstum und Wohlstand produzierte, sondern auch in die sozialen und ökonomischen Verwerfungen der Finanzkrise mündete. In Deutschland meint man, von diesem "Pumpkapitalismus " nur wenig zu spüren, denn die historisch eigentümliche Schuldendynamik führte in den 2000er-Jahren zu stagnierenden und im internationalen Vergleich geringen Schuldenquoten. Daniel Mertens entwirft das Bild einer gedämpften Finanzialisierung in der vom Export und Sparen geprägten deutschen Ökonomie.
»Diese Studie [hat] das Potenzial, richtungsweisend für die sich entwickelnde politische Ökonomie der Privatverschuldung zu werden.« Jan-Ocko Heuer, Politische Vierteljahresschrift, 27.11.2017 »Mertens' exakte Aufarbeitung der überaus vielschichtigen Entwicklung ist zweifelsohne ein Lehrstück politischer Ökonomie in historisch-institutionalistischer Perspektive. Bemerkenswert ist, wie der Autor die sich gegenseitig filternden Tendenzen immer wieder zu übergreifenden Linien bündelt und wie überzeugend er damit demonstriert, dass sich Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge nur durch die Zusammenschau unterschiedlichster Ereignisketten nachvollziehen lassen.« Malte Flachmeyer, soziopolis.de, 24.11.2017
Autorentext
Daniel Mertens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Internationale Beziehungen und Internationale Politische Ökonomie der Universität Frankfurt am Main.
Leseprobe
Kapitel 1
Einleitung: Privatverschuldung als Gegenstand der Politischen Ökonomie
Selten finden so einschneidende Ereignisse statt, dass in ihrer Folge ganze Forschungshorizonte eröffnet werden. Die Finanzkrise der späten 2000er-Jahre war ein solches Ereignis, und seit den frühen Verwerfungen auf dem US-Hypothekenmarkt gilt vor allem einem Phänomen zunehmende Aufmerksamkeit: der Verschuldung privater Haushalte. Längst ist klar, dass das Schuldenwachstum der vergangenen Jahrzehnte keine US-amerikanische Eigenheit war, sondern zahlreiche Industrieländer erfasst hatte, wo es schließlich zu finanzieller Instabilität einerseits und prekären Bedingungen für soziale Teilhabe andererseits beitrug. Und doch sind die Grundlagen der von Ralf Dahrendorf einst als "Pumpkapitalismus " bezeichneten historischen Phase der Kreditexpansion nur unzureichend verstanden. Nirgendwo lässt sich das besser beobachten als in Deutschland, wo man sich im Vertrauen auf den konservativen privaten Kreditnehmer in der Regel fern wähnt von den turbulenten Immobilien- und Konsumentenkreditmärkten anderer Ökonomien. In der Tat stagnierte die Privatverschuldung in Deutschland im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts durchgängig und hob sich damit deutlich vom internationalen Trend ab. Zugleich stellte diese Entwicklung einen markanten Bruch mit den Jahrzehnten zuvor dar, als die Schulden der deutschen Privathaushalte fast stetig und teils rasant anstiegen. Das vorliegende Buch lädt daher dazu ein, über die Ursachen dieses sonderbaren Verlaufs nachzudenken, indem es private Schulden nicht allein als Ergebnis kultureller Dispositionen betrachtet, sondern als Phänomen, das auf das Engste mit gesellschaftlichen Regelsystemen, politischen Weichenstellungen und wirtschaftlicher Entwicklung in kapitalistischen Ökonomien verknüpft ist. Natürlich nehmen Menschen eigenmächtig Kredite auf, um ein Auto oder eine Wohnung zu kaufen. Sie nutzen ihren Dispositionskredit im Alltag, um Rechnungen zu begleichen, bevor das nächste Einkommen auf dem Konto gutgeschrieben wird. Dennoch ist ihr Handeln als Resultat politökonomischer Zusammenhänge zu verstehen und Ausdruck einer spezifischen Phase kapitalistischer Vergesellschaftung.
In den westlichen Industrieländern belief sich die durchschnittliche Gesamtverschuldung von Staat, Unternehmen und Privathaushalten im Jahr 2010 auf mehr als 300 Prozent der Wirtschaftskraft der Industrieländer, doppelt so viel wie noch 1980, wie die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich errechnet hat (Cecchetti/Mohanty/Zampolli 2011: 5). In diesem Zeitraum entfaltete die private Verschuldung in vielen Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) eine Dynamik, die selbst das so viel beachtete Wachstum der öffentlichen Schulden in den Schatten stellte.
Insbesondere ab Mitte der 1990er-Jahre, als viele Staaten ihre öffentliche Verschuldung durch ein Zusammenkommen von rigider Austeritätspolitik und weltwirtschaftlichem Auftrieb zurückfahren konnten, setzte dieses Wachstum ein. Vor diesem Hintergrund ist der private Kredit in den letzten Jahrzehnten zu einer elementaren Säule einiger nationaler Wachstumsregime geworden. Der Soziologe Colin Crouch (2009a, 2010) spricht in diesem Zusammenhang von einem Policy-Regime des privatisierten Keynesianismus, in dem nicht nur die Ausdehnung der Kreditmärkte für mittlere und untere Einkommensbezieher, sondern auch das Wachstum der Finanzmärkte insgesamt institutionell abgesichert wurde. Dieses politisch eingehegte, kreditbasierte Wachstumsmodell unterscheidet sich Crouch zufolge vom keynesianisch-fordistischen Wohlfahrtsmodell der Nachkriegszeit dadurch, dass nicht länger "die Schulden des Staates die Wirtschaft aufrechterhalten", sondern nun "die privaten Schulden des Volkes, [] das System am Laufen hielten" (Crouch 2010: 121). Demnach verhalfen die Konsum- und Wachstumseffekte einer steigenden Kreditfinanzierung der neoliberalen Politik zur nötigen Legitimität, denn ähnlich wie in der Nachkriegszeit hatte sich das Spannungsverhältnis von Demokratie und Kapitalismus durch das neue Regime vorübergehend entschärfen lassen: "[It] temporarily succeeded in reconciling the uncertainties and instabilities of a capitalist economy with democracy's need for stability for people's lives and capitalism's own need for confident mass consumers" (Crouch 2009a: 382). Auch mit Blick auf die Theorie des Spätkapitalismus war die seit den späten 1970er-Jahren bis zum Ausbruch der Finanzkrise zu beobachtende Kreditexpansion der Weg, um die sozialen und politischen Krisen, die sich durch die "Imperative der Akkumulation und der Legitimation" (Offe 1972: 102) ergaben, zu überwinden oder doch zumindest in die Zukunft zu verschieben. Der private Kredit wurde in diesem Sinn zur Essenz eines sukzessiven Finanzialisierungsprozesses, in dem finanzbezogene Aktivitäten, Akteure und Interessen eine wachsende Bedeutung erlangten (Krippner 2011; Streeck 2011a).
Dieses Buch hat sich daher der Aufgabe verschrieben, die Verschuldung deutscher Haushalte in dieser Entwicklung zu verorten, ihre institutionellen Voraussetzungen zu identifizieren und zu einem besseren Verständnis der Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Interdependenzen nationaler politischer Ökonomien beizutragen. Die vielfältigen Bestimmungsfaktoren der privaten Kreditbeziehungen, so die These, müssen dafür den jeweiligen Produktions- und Verteilungsregimen entsprechend kontextualisiert werden. Diese Herangehensweise ist zum einen einer regulationstheoretischen Perspektive geschuldet, in der die Rolle des privaten Kredits zentral für ein auf den Fordismus folgendes, ursprünglich mit potenziell positiven Wachstumseffekten assoziiertes "finanzdominiertes Akkumulationsregime" ist (Boyer 2000; Stockhammer 2007). Sie geht zum anderen auf eine fortdauernde Debatte über die varieties und commonalities kapitalistischer Gesellschaften zurück (Hall/Soskice 2001; Streeck 2009), die sich bislang aber nur zögerlich mit Finanzmärkten und vor allem den Kredit- und Konsumbeziehungen privater Haushalte auseinandergesetzt hat, obwohl diese fundamentale Bausteine moderner politischer Ökonomien sind.2 Private Verschuldung ist zwar zuweilen als anthropologische Konstante verstanden worden (Graeber 2011), doch die politischen und gesellschaftlichen Vorzeichen, unter denen sie ihre Dynamik…