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Die Anthologie präsentiert in einer originellen zweisprachigen Ausgabe zehn Erzählungen ebenso vieler erfolgreicher italienischer SchriftstellerInnen, die in Deutschland noch wenig bekannt sind.
Autorentext
Nadia Terranova, geboren in Messina, lebt heute in Rom. Aus ihrer Feder stammen die Romane Gli anni al contrario (Einaudi 2015, Gewinner zahlreicher Preise, darunter Premio Bagutta Opera Prima, Premio Fiesole, Premio Brancati sowie in den USA The Bridge Book Award) und Addio fantasmi (Einaudi, 2018), sowie verschiedene Kinderbücher wie Bruno il bambino che imparò a volare (Orecchio Acerbo, 2012) oder Casca il mondo (Mondadori, 2016). Ihre Bücher sind in mehreren europäischen Ländern erschienen. Sie arbeitet für La Repubblica und andere Zeitungen.
Leseprobe
SPIEGELUNGEN, ZEHN NEUE LITERARISCHE STIMMEN AUS ITALIEN Paolo Di Paolo Der Hafen des Vergessens Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt Dobrodoli. Ein Wort hat genügt. Es hat genügt, es auf einem Schild zu lesen es in Zadar zu lesen , um die Erinnerung zu wecken. Ich hatte eine Sprache gelernt, vor zwanzig Jahren! Doch es war, als hätte ich sie gelöscht, verdrängt. Wo hatten sie sich nur versteckt, die Brocken Serbokroatisch erworben im schmucklosen Raum eines Kulturvereins in Ciampino? Wo waren sie gelandet, in welchem Brunnen des Vergessens, dobar dan, dobro vee, guten Tag, guten Abend, molim vas, bitte, danke, auf Wiedersehen? Ich konnte den einen oder anderen Satz lesen und aufsagen, konnte Wie geht es dir? fragen, was mich zum Lachen brachte: Kako si? Dobrodoli, Dalibor. Kako si, Dalibor? Ein Gruß, den man benutzt, wenn jemand ankommt: Dobrodoli. Willkommen. So hatte es auf Serbokroatisch und Italienisch in großen roten Lettern auf einem Transparent gestanden, das an ihn, an sie alle gerichtet war: damals, als sie auf einem kleinen Platz in der Nähe des Bahnhofs aus dem Bus stiegen. Ein paar Kinder ohne Familie oder aber aus kaputten, durch den Krieg zerrissenen Familien. Dalibor! Wenn es stimmt, dass die Zeit für alle gleich schnell vergeht, müsste er jetzt mehr oder weniger in meinem Alter sein. Ich habe nur einen winzigen Ausschnitt aus seinem Leben mitbekommen und er aus meinem einen Sommer, anderthalb Monate im Sommer 1995. Das war es dann. Danach habe ich nicht mehr nach ihm gesucht, ihm nicht geschrieben und mich auch nicht nach ihm erkundigt. Ohne dass ich jetzt wüsste, warum. Ich kann den Grund für diese plötzliche Gleichgültigkeit nicht benennen. Wir hatten uns doch angefreundet in diesen anderthalb Monaten so wie es zwei zwölfjährige Jungen unweigerlich tun, die sich noch nie zuvor gesehen haben, dann aber die sich träge hinziehenden Schulferien tagtäglich vom Frühstück bis zum Abendessen gemeinsam verbringen. Und dabei alles teilen müssen auch das Kinderzimmer, mein Kinderzimmer, und sogar die Klamotten, wenn nötig. Ich könnte auf Facebook nach ihm suchen, doch darauf habe ich keine Lust. Ich kann mich noch an seinen Nachnamen erinnern und sehr gut an sein Gesicht an seine Art, die Augen zusammenzukneifen und den Kopf schräg zu legen, bis das Kinn beinahe die rechte Schulter berührt. Ich habe auch nicht vor Ort nach ihm gesucht. Das wäre gar nicht gegangen deswegen hatte ich die Reise nicht angetreten. Mit ein paar T-Shirts, Unterhosen und Büchern im Gepäck erkundete ich Kroatien wie ein Badeurlauber. Zuerst mit einem Zug, der in Rovigno, Rovinj, hält, wo alles so 13 aussieht wie eine etwas seltsame Fortsetzung von Italien; und wo dich der istrische Kellner sofort aufzieht: 'taliano? Bravo. Dann mit dem Bus nach Pula ein kleines Hotel neben dem römischen Triumphbogen erinnert daran, dass Joyce mal irgendwo hier gewohnt hat: Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, als Englischlehrer für österreichisch-ungarische Offiziere. Mit der Fähre von Pula nach Zadar, Aufbruch bei Sonnenaufgang eingehüllt in rosa Morgendunst. Die Dinge haben ihre Konturen noch nicht wiedererlangt. Mit belegter Zunge döst du weiter, machst die Augen auf und schließt sie noch mal, schlägst sie erneut auf, und dann ist da nur noch Meer. Die Adria, wie es gleich zu Beginn des kleinen Reisebreviers heißt, das ich dabei habe. Die Seiten wellen sich vom Salzwasser und das gefällt mir. Breviario mediterraneo von Predrag Matvejevi. Als es heute vor dreißig Jahren erschien, hat es uns gelehrt, das Mittelmeer, das wir mare nostrum nennen, mit anderen Augen zu sehen. Ich weiß, dass meine entspannten, abgelenkten Mitreisenden das nicht präsent haben der Riesenkerl, der sich auf den Sitzen ausstreckt, den Schonbezug von der Kopflehne reißt und ihn sich über die Augen wirft, die Freundin, die sich auf ihn legt, den Kopf zwischen seinen Beinen. Eher verschlafen als sinnlich. Es ist schwer, die tatsächliche Farbe des Meeres zu bestimmen, lese ich. Es gibt so viele, verschiedenartige, unfassbare. Wir bezeichnen es normalerweise als blau, aber das ist es längst nicht immer.
Inhalt
S. 7 Vorwort S. 11 "Der Hafen des Vergessens" von Paolo Di Paolo S. 19 "Der genaue Moment von Simone Giorgi S. 27 "Maß und Mitte" von Gabriella Kuruvilla S. 35 "Die Bärin" von Gaia Manzini S. 47 "An dich, Sonne, richte ich meinen Gruß" von Gaia Manzini S. 61 "Blei- eine Autobiographie" von Demetrio Paolin S. 73 "Chronik eines zufälligen Verbrechens" von Anna Pavignano S. 83 "Die Ikone" von Igiaba Scego S. 97 "Der Mann, der es geschafft hat" von Simona Sparaco S. 111 "Ertrinken" von Nadia Terranova S. 121 Biografische Anmerkungen