

Beschreibung
In meiner Lyrik arbeite ich damit, neue Formen zu (er)finden, weil Form nicht nur etwas Äußerliches ist, sondern auch davon handelt, wie man seine Gedankengänge gestaltet, Denkformen. Die Form entspringt dem Stoff, ich arbeite intuitiv-systematisch und sehe mi...In meiner Lyrik arbeite ich damit, neue Formen zu (er)finden, weil Form nicht nur etwas Äußerliches ist, sondern auch davon handelt, wie man seine Gedankengänge gestaltet, Denkformen. Die Form entspringt dem Stoff, ich arbeite intuitiv-systematisch und sehe mich als humanistische Konzeptualistin. Sprache ist Menschensprache. Die Sprache ist uns ausgeliefert, unserer Verwendung ihrer selbst, doch gleichzeitig birgt sie eine kolossale Kraft in sich, deshalb kann Sprache gefährlich sein. Genauso, wie sie extrem heilsam sein kann. Schon lange beschäftige ich mich mit gegenseitiger mentaler Entpatriarchalisierung und Entkolonisierung, welche nicht nur etwas Ideologisches, sondern auch etwas Ästhetisches und Methodisches sind. Mein Schreiben fordert neue Rituale, neue Mythen, es treibt mich zu Experimenten, und ich arbeite häufig mit Objekten im konkreten Raum beispielsweise besitze ich einen Glasrevolver, über den in Stirb, Lüge, stirb geschrieben wird. Einige der Themen, mit denen ich mich in meinen Werken beschäftigt habe und die oft politisch genannt worden sind, sind Geschlecht, Sexualität, Identität, die Sicht auf den Anderen, Kritik am Weißsein und an der Heimat. Stirb, Lüge, stirb ist ein umfangreicher und komplexer Gedichtband in fünf Teilen, komponiert wie ein Wurzelgeflecht mit vielen nicht hierarchischen Verzweigungen, Verschiebungen und Verbindungen. Stirb, Lüge, stirb ist ein existenzieller und experimenteller Gedichtband über das Weißsein, darüber, Zeuge zu sein, über Mythen, den Verlust von Liebe und über Gemeinschaft. Mette Moestrup
Autorentext
Mette Moestrup, geboren 1969, dänische Lyrikerin und Performerin, lebt in Kopenhagen und arbeitet über nordische und ästhetische Grenzen hinweg. Sie studierte nach Reisen nach Ägypten und Ostafrika Literatur in Århus, mit Aufenthalten in Paris und an der Columbia University in New York. 1998 debütierte sie mit Tätowierungen, gefolgt von Golden Delicious (2002), kingsize (2006), der Romancollage Dem Erdboden gleich (2009) und Stirb, Lüge, stirb (2012). Moestrups mit Preisen ausgezeichnete Lyrik wurde in mehrere Sprachen übersetzt, unter anderem ist kingsize in den USA erschienen. Zuletzt hat Moestrup zwei Kollektivarbeiten veröffentlicht, FREI GEFLOCHTEN. Das Gemeinschaftsbuch (2014), zusammen mit Naja Marie Aidt und Line Knutzon, und Omina (2016), zusammen mit Aidt. Zudem hat sie zwei Kinderbücher veröffentlicht und unter anderem Sylvia Plath übersetzt. Moestrup unterrichtet an nordischen Autorenschulen und ist eine markante feministische Stimme in der öffentlichen Debatte. Performativ arbeitet sie sowohl im Duo SHE'S A SHOW als auch solo. Im Winter 2014 war sie als Stipendiatin der Stiftung Brandenburger Tor in Berlin.
Leseprobe
I. STIRB , LÜGE, STIRB Die Männerbabystimme lispelt süßlichen Hass, der Mund leckt böse Milch, die um die Mundwinkel schäumt, in den Bartstoppeln eintrocknet wie porzellanfarbener Puder. STIRB, LÜGE, STIRB. Der Puder der Klavierlehrerin; eine pelzbraune Maske, stumm über uralten Zwergenfingern, Jazzhänden, pianissimo. STIRB, LÜGE, STIRB. Schuhwichse im Mädchengesicht zu Fastnacht, verkleidet, nicht als schwarzer, als weißer Schauspieler, der einen Schwarzen in einem alten Schwarz-Weiß-Film spielt. STIRB, LÜGE, STIRB. Ebenholz und Elfenbein. Etüden. Tuten, auf gefühllosen Tangenten spielen. Noten schreiben, Noten zerreißen. Ein Blackout, mitten in der Mondscheinsonate für das Konzert im Hotel Phønix. Die Klavierlehrerin, die sich räuspert, in den Noten blättert. Die Sprünge in ihrer Maske, sie mimt ein von vorn mit dem Mund. Blockieren, zum zweiten Mal, in der Mondscheinsonate. Die Stille im Saal. Der Verlust des kindlichen Glaubens kurz nach dem Konzert, kurz nach der Konfirmation. Sie beten eine Eklipse an, die sie Vater nennen. STIRB, LÜGE, STIRB. Eine Heiserkeit, die des Geschichtslehrers, seine Bedeutung für den Widerstand gegen das kollektive Vergessen, bereits in der latenten Phase. Die Körper liegen gefesselt, dicht an dicht wie in einem systematischen Massengrab, ein systematisches Massengrab: Die Sklaven auf der Zeichnung des dänischen Sklavenschiffs im Schulbuch. Die Furcht wie eine nationalgeschichtliche Zeitbombe im Kinderhirn. Ich bin weiß im Gesicht. Auch wenn ich mich wasche. Weiß, weiß, weiß über und über. STIRB, LÜGE, STIRB. Die Furcht vor dem Weißesten. Die Lilie in Billie Holidays Haar. Die zwei Schwanenhälse, die ein Herz auf der Silberhochzeitsstreichholzschachtel bilden. Die Ku-Klux-Klan-Kapuzen. Die Milchzähne. Der Brautschleier über dem Schädel. Die Gipsmasken. Die Papierhauben auf den Hyazinthen. Die zerdrückten Maiglöckchen vermischt mit eingedampfter Bärengalle, Wolfsherz und pulverisiertem Menschenschädel von Kriminellen, Hingerichteten: Epilepsiemedizin. Samen. Samen. Die Lochstickerei des Konfirmationskleids. Lochstickerei überhaupt. Stickerei as such. Der Schnee auf dem Roten Platz. Die selbstleuchtenden Totenschädel über dem Gitterbett. Das Stroboskoplicht im Birkenwald. Das Stroboskoplicht im Birkenwald. Das Stroboskoplicht im Birkenwald. Das weiße Rauschen. Das weißere Rauschen. Das weißeste Rauschen. Das Tonbandgerät in der Gespenstermilch des Swimmingpools im Mondschein. Das Tonbandgerät in der Blutlache im Mondschein. Die Blindenschrift auf dem Blutbuchenblatt im Mondschein. Der weißweiße Mond. Der rotglühende Repeat-Knopf. STIRB, LÜGE, STIRB. STIRB, LÜGE, STIRB. STIRB, LÜGE, STIRB.