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Arbeit und Alltag
Beiträge zur ethnografischen Arbeitskulturenforschung
Herausgegeben von Irene Götz, Gertraud Koch, Klaus Schönberger und Manfred Seifert
Nach 1919 ziehen 150 Familien aus der schweizerischen Genossenschaftsbewegung an den Stadtrand von Basel. In einer großzügig angelegten Siedlung arbeiten sie gemeinsam an einem dörflich-kooperativen Siedlungsexperiment jenseits von kapitalistischer Konkurrenzwirtschaft. Obwohl die Selbstorganisation des Freidorfs in Kriegszeit und Wirtschaftsaufschwung ohne äußere Eingriffe blieb, stand sie bald vor neuen, grundlegenden Herausforderungen.
Vorwort
Arbeit und Alltag
Beiträge zur ethnografischen Arbeitskulturenforschung
Herausgegeben von Irene Götz, Gertraud Koch, Klaus Schönberger und Manfred Seifert
Autorentext
Matthias Möller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Studiengang Europäische Ethnologie an der Universität Freiburg.
Leseprobe
Einleitung: Eine "cooperative Rarität Europas
"Seit 1920 bietet im Osten von Basel die Siedelung Freidorf dem Flieger wie dem Volksfreund ein gleicherweise rosig schimmerndes Peilziel. Dem Erdkundigen ein neuer Ort auf der Siegfriedkarte, dem Bourgeois rotes Nest, dem Sovjetstern nicht rot genug, dem Aestheten Kaserne, dem Gläubigen Stätte der Religionslosigkeit, dem Eigenbrödler Zwangserziehungsanstalt, dem Privathändler Todschlagsversuch an seiner Wirtschaftsform, und dem Genossenschafter die erste schweizerische Vollgenossenschaft und eine cooperative Rarität Europas: Das ist die Siedelungsgenossenschaft Freidorf."
Die Siedelungsgenossenschaft Freidorf (SGF) wurde 1919 vom Verband schweizerischer Konsumvereine (VSK), dem Vorläufer der heutigen Coop-Gruppe, gegründet. In Zeiten wirtschaftlicher Not und sozialer Polarisierung errichtete sie zwischen Basel und Muttenz 150 Häuser für Familien der Konsumgenossenschaftsbewegung. Als weitläufige Gartenstadt mit Einfamilienhäusern setzte sich das Freidorf von den ärmlichen Wohnverhältnissen in städtischen Arbeiterquartieren ab und schuf für geringe Einkommen neue, damals unerreichbare Wohnverhältnisse. Das 8,5 Hektar große Ensemble gilt als bedeutendster Siedlungsbau der Zwischenkriegszeit in der Schweiz. Es genießt auch als Frühwerk des späteren Dessauer Bauhausdirektors Hannes Meyer (1889-1954) größere Aufmerksamkeit. Doch neben seiner baulichen Gestalt ist vor allem das mit ihm verbundene soziale Experiment von Interesse: Der VSK verfolgte mit dem Freidorf die modellhafte Implementierung eines dörflich-genossenschaftlichen Sozialismus. Das Siedlungsleben wurde auf kooperativer Grundlage organisiert, was nach den konsumgenossenschaftlichen Vorstellungen der Gründer von den Haushalten und deren Bedarfsdeckung ausging, darüber hinaus jedoch weitere Bereiche des Dorflebens einschloss. Im Freidorf sollten neue, genossenschaftliche Menschen herangezogen werden, um ein kooperatives Gemeinwesen vorzuleben und damit beispielhaft die Überlegenheit genossenschaftlicher Zusammenschlüsse über die kapitalistische Konkurrenzwirtschaft zu demonstrieren. Dafür stellte der VSK die beachtliche Summe von 7,5 Millionen Franken zur Verfügung, mit denen eine im Hinblick auf Ausstattung und Konzept herausragende Genossenschaftssiedlung entstand, die damals ihresgleichen suchte. So war das Freidorf bereits in den 1920er Jahren ein exponiertes Beispiel für genossenschaftliche Wohnreform und ein international beachteter Modellversuch. Auch später wurde es als "Idealtyp einer Baugenossenschaft" beziehungsweise als eines "der interessantesten Genossenschaftsexperimente der Welt" bezeichnet.
War die Freidorfsiedlung bereits in der Zwischenkriegszeit eine Besonderheit, so dürfte sie nach dem Krieg auf dem europäischen Festland nahezu einzigartig gewesen sein. Dafür trägt der Bruch durch den Nazifaschismus entscheidende Verantwortung, der gewerkschaftliche Wohnungsunternehmen und Genossenschaften beschlagnahmte, gleichschaltete und zentralisierte. So sollte der Zusammenhalt in den roten Siedlungen, ihre kooperative Wirtschaftsweise und politische Kultur grundlegend zerstört werden. Nach 1945 wirkten die Eingriffe weiter, so dass in der BRD keine vergleichbare Genossenschaftskultur mehr entstand. Bilanzierend stellt der Historiker Rüdiger Hachtmann fest, dass
"dezentrale, gewerkschaftsnahe Genossenschaften - die deren Protagonisten vor 1933 auch als zentrale Elemente einer friedlichen Sozialisierung von unten verstanden hatten [] dauerhaft nicht wieder erstanden. Fu?hrende Mitglieder des DGB und die leitenden Manager der den Gewerkschaften ru?ckerstatteten Unternehmen und Genossenschaften erlagen der Faszination großer o?konomischer Einheiten. Dass sie damit weiter einen Weg beschritten, den die Deutsche Arbeitsfront 1933 eingeschlagen hatte, war ihnen scheinbar das kleinere U?bel, als aufwendig eine Vielzahl von basisnahen, lokalen Einheiten wieder zu gru?nden."
Mit dem Schweizer Freidorf hat dagegen eine herausragende sozialreformerische Siedlung die NS- und Kriegszeit ohne größere Eingriffe überstanden. Umso erstaunlicher ist das Fehlen einer sozialhistorischen Untersuchung seiner Entwicklung, zumal das Freidorf bereits zu Beginn der 1980er-Jahre als Modell einer Gegenökonomie von Klaus Novy (1944-1991) (wieder-)entdeckt worden war. Der Bauo?konom und Experte fu?r genossenschaftliches Wohnen war tief beeindruckt vom Freidorf, in dem er eine im Kleinen konkret gewordene, antikapitalistische Utopie sah. Er verwendete es als herausragendes Beispiel für Selbsthilfe und Selbstorganisation im Kontext einer Aneignungsbewegung der Zwischenkriegszeit, die er als positive Ökonomie der Arbeiterbewegung beziehungsweise als Wirtschaftsreformbewegung von unten bezeichnet. Die (von ihm nur knapp behandelte) Geschichte des Freidorfs sieht er als Anlass zur Reflexion solch basisbezogener, demokratischer Ansätze der Gegenökonomie, denn
"das ökonomisch und ästhetisch grandios angelegte Freidorf ist heute [1982] Ausdruck des Umschlages des Traumes von der großen Harmonie in schlichte Spießigkeit. Ähnliches gilt für fast alle Fälle aus dem Umfeld der historischen Arbeiterbewegung; die Miefigkeit des Dorfes hat jedes Bemühen um Freisetzung von unnötigen Zwängen verdrängt. Jede soziale Dynamik und Phantasie scheint stillgestellt. Die einst mühsam erkämpften und erarbeiteten Kollektiveinrichtungen verfallen oder werden privatisiert."
Für eine Reflexion der Transformationsprozesse sind jedoch "Spießigkeit" und "Miefigkeit" keine geeigneten Kategorien, vor allem da sie zugunsten einer vorwurfsvollen Grundhaltung die Frage vernachlässigen, was eigentlich in der Siedlung, ihren alltäglichen Prozessen und selbstverwalteten Strukturen geschah. Der Genossenschaftswissenschaftler Wilhelm Werner Engelhardt hat in diesem Zusammenhang Behutsamkeit angemahnt, um vorschnelle Anprangerungen vermeintlicher Degenerationen aus einem überzeitlichen, moralischen Standpunkt heraus zu vermeiden. Novy selbst warnte davor, das Scheitern genossenschaftlicher Reformprojekte einzig einer genossenschaftsfeindlichen Umgebung anzulasten. Dies umgehe die entscheidende Frage nach den "immanenten Funktionsbedingungen nichtkapitalistischer Ökonomieformen. Darüber etwas zu erfahren, das müßte der kritische Rückgriff auf die Geschichte der vergessenen dritten Säule der Arbeiterbewegung leisten."
Das Freidorf existiert auch heute noch als Genossenschaft. Sein vielfältiger Quellenbestand ermöglicht eine höchst seltene Perspektive auf die Entwicklung genossenschaftlicher Reformsiedlungen: eine Längsschnittuntersuchung der internen Entwicklung über Jahrzehnte. Sie nimmt insbesondere die Arbeitsprozesse in der Siedlung in den Blick und untersucht die Strukturen, in denen die Arbeit an der kollektiven Reformidee organisiert wurde, die Voraussetzungen, auf denen sie aufbaute, und die siedlungsbezogenen Abläufe, die daraus folgten. Die dabei wirksamen Praktiken und Muster gilt es freizulegen, um mehr über…
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