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Terroristische Attentate erschütterten am Ende des 19. Jahrhunderts ganz Europa. Zwischen 1880 und 1914 kamen durch Revolverschüsse, Messerstiche oder Bomben so viele Monarchen, Staatsoberhäupter, Minister und Beamte ums Leben wie in keiner Zeit zuvor und danach. Anhand von Beispielen aus Deutschland, Frankreich und Italien untersucht dieses Buch das Phänomen Attentat als Herausforderung des staatlichen Gewaltmonopols: Wie reagierten die Nationalstaaten auf anarchistische Anschläge? Führte ein schwacher Staat zu vermehrten Exzessen der Gewaltsamkeit? Galten die staatlichen Repressionen der Bedrohung oder benutzten die Behörden diese nur als Vorwand, um andere Ziele zu erreichen? Gibt es Kontinuitäten zur staatlichen Reaktion auf den Terrorismus des 20. und 21. Jahrhunderts?
»Nie wurden mehr politische Attentate verübt als Ende des 19. Jahrhunderts. Der Historiker Heinz-Gerhard Haupt beschreibt, wie die Europäer der Bedrohung damals begegneten und was heutige Staaten daraus lernen könnten.« Florian Keisinger, NZZ, 23.10.2019 »Bei Haupts Buch [handelt es sich] um eine gut lesbare und anregende Studie, die zum Nachdenken über die geeigneten Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung anregt. Der Autor folgert aus seiner Analyse staatlicher Terrorismusbekämpfung, dass nur der Verzicht auf staatliche Repressionen sowie die Ermöglichung politischer Teilhabe geeignet seien, die Gewalt nachhaltig zu beenden. Diese zentrale Aussage bleibt auch für unsere Gegenwart bedenkenswert.« Moritz Florin, Kulturgeschichtliche Umschau, 13.10.2021
Autorentext
Heinz-Gerhard Haupt lehrte Geschichte u.a. an der Universität Bielefeld, der Universität Lyon 2 und am Europäischen Hochschulinstitut Florenz.
Leseprobe
Vorwort Attentate erschrecken uns mehr noch in unserem europäischen Schonraum als in Afrika oder Asien, wo sie ungleich häufiger und blutiger sind. In ihnen verfolgen in der Regel Minderheiten politische und gesellschaftliche Ziele, oft auch Herrschaftsansprüche aus einer Situation der Schwäche heraus. Diese Ziele rechtfertigen gleichwohl nicht die gewaltsamen Mittel, die immer auch Unbeteiligte und Unschuldige treffen und deren Leben vernichten. Es ist von Theoretikern und Akteuren immer wieder versucht worden, politische Gewalt aus ihren vermeintlich progressiven Zielen zu rechtfertigen allerdings ohne Erfolg. Die gewaltsamen Mittel diskreditieren nachhaltig die Zielsetzungen, selbst wenn sie in Extremsituationen wie Fremdherrschaft, Diktaturen oder Unterdrückung eingesetzt wurden. Auch in diesen ist die Sensibilität des Gewalttäters gefordert, die Albert Camus in seinem Stück »Die Gerechten« (»Les justes«) so beschrieben hat: Er zögert, eine Bombe auf den Großfürsten zu werfen, weil dieser neben Kindern, seinen Neffen, sitzt. Um Attentäter mit durchweg politischen Motiven geht es in diesem Buch, nämlich um Anarchisten, die in einer bestimmten Phase des 19. Jahrhunderts mit der »Propaganda der Tat« Gewalt befürworteten und benutzten. Es geht um ihre Ziele eine klassen- und herrschaftsfreie Gesellschaft zu errichten , nachdem es ihnen nicht gelungen war, eine Massenbewegung zu bilden oder erfolgreiche Aufstände zu organisieren. Die Anarchisten trafen dabei auf den Widerstand des modernen Sicherheitsstaates, für den bis heute die Reaktionen auf Attentate zu den großen Herausforderungen gehören. In ihnen müssen Regierungen strategischen Weitblick mit sensibler Behandlung und politischer Prinzipientreue verbinden. Die wechselseitigen Beziehungen zwischen Attentätern und dem Staat stehen im Mittelpunkt der Studie und damit die zentrale Frage, ob und wie die staatlichen Instanzen im Deutschen Reich, in Frankreich und in Italien die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit bei ihren Antworten auf Gewalttaten respektierten. Die Beschäftigung mit politischer Gewalt ist aus dem lebendigen und anregenden Lehr- und Forschungszusammenhang der Universität Bielefeld und des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz entstanden. In dem Sonderforschungsbereich »Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte«, in dem ich vor allem mit Ute Frevert und Willibald Steinmetz zusammengearbeitet habe, ging es besonders um die Gewaltmanifestationen, die die Grenzen des politischen Raumes verschoben. Mit Wilhelm Heitmeyer habe ich mich in einem Forschungsjahr am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung in Bielefeld unter der Fragestellung nach der Kontrolle der Gewalt weiter mit der Problematik beschäftigt. In Florenz konnte ich eine Reihe von Dissertationen betreuen, in denen in unterschiedlichen europäischen Gesellschaften gewaltsame Akteure und Situationen untersucht wurden. Mit Donatella della Porta habe ich im European Forum des Europäischen Hochschulinstituts zu Prozessen der gewaltsamen Radikalisierung im globalen Kontext geforscht. Meine eigenen Arbeiten blieben schon aufgrund begrenzter Sprachkenntnisse auf den französischen, italienischen und deutschen Kontext begrenzt. Sie wurden maßgeblich motiviert durch das Erschrecken über die Gewalt der RAF in den 1970er Jahren und das Ausmaß der staatlichen Gegengewalt, die ich nicht als verhältnismäßig empfand. Ob Sachnotwendigkeiten oder politische Strategien dafür verantwortlich waren, hat mich im europäischen Vergleich schon damals und erneut vor allem nach »9/11« beschäftigt. Die Frage, ob bereits am Ende des 19. Jahrhunderts in ähnlichen Situationen Staaten ähnliche Mittel benutzten und welche Folgen diese hatten, ist ebenso wie der Blick auf die heutige Situation in das Schreiben des Buches eingegangen. Dieses hat sowohl profitiert von zwei angenehmen und fruchtbaren Aufenthalten am französischen Institut d'études avancées in Nantes und am Iméra in Marseille als auch von den Kommentaren von Kolleginnen und Kollegen, die das Manuskript teilweise oder vollständig gelesen haben. Ich danke besonders Birgit Aschmann, Albrecht Funk, Anna Haupt, Fabian Lemmes, Francis Luisier, Hartmut Müller, Sven-Oliver Müller und Frank Trentmann. Einleitung Das Ende des 19. Jahrhunderts war in Europa eine Hochzeit der politischen Attentate. Durch Revolverschüsse, Messerstiche oder Bombenlegen kamen zwischen 1880 und 1914 so viele Monarchen, Staatsoberhäupter, Minister oder Beamte in Europa ums Leben wie in keiner Zeit zuvor und danach. Vom zaristischen St. Petersburg über das monarchische Rom und Florenz, das kaiserliche Berlin und das republikanische Paris bis in das Barcelona der Jahrhundertwende erstreckte sich in Europa die Welle der Anschläge, die zwar nicht alle, aber doch mehrheitlich von anarchistischen Gruppen oder Einzeltätern begangen wurden. Die Gewalttaten hatten durchweg politischen Charakter. Durch sie strebten politische und soziale Gruppen, die sich in der Minderheit befanden, nach Veränderungen in der Verfassungsordnung und den gesellschaftlichen Strukturen oder verfolgten nationalpolitische Ziele. Mit den Staatschefs, Ministern und Staatsbediensteten galten die Angriffe den Repräsentanten einer staatlichen Ordnung, deren Prinzipien und Aktionen die Attentäter ablehnten. Ihnen setzten die Anhänger der ersten internationalen Arbeiterassoziation, die sich vom marxistischen Mainstream nach der Pariser Commune getrennt und sich den anarchistischen Ideen Michail Bakunins und Petr Kropotkins geöffnet hatten, die Selbstbestimmung der Produzenten, antikapitalistische Ziele und die Vision einer Gesellschaft der Gleichen entgegen. Neben den politisch motivierten Attentaten standen aber auch gewaltsame Racheakte, die Francesco Benigno der Tradition der populären Justiz zuschreibt. In ihnen versuchten die Gewalttäter anstelle der Verurteilten und Opfer zu handeln und Mitglieder der Justiz oder des Polizeiapparates zu bestrafen. Aufgrund der von ihnen benutzten Gewalt sind diese Akteure auch als Terroristen und das Ende des 19. Jahrhunderts als erste Phase einer langen Entwicklung terroristischer Angriffe auf die staatliche und bürgerliche Ordnung bezeichnet worden. In der Tat steht die Strategie der »Propaganda der Tat«, die …