Hin- und herbrausende Züge (Cotta's Bibliothek der Moderne)

Der vorliegende Band sammelt neunzehn Erzählungen. Der genaue, das Fremde im Vertrauten entdeckende Blick auf den Alltag und die unvergleichliche sprachliche Inszenierung - sie finden sich in diesen Prosamodellen. Um das chaotische Muster unserer Wahrnehmung geht es hier, um den Sternenhimmel unserer Assoziationen, um unsere unvermeidlichen Versuche, die Wirklichkeit durch private Ideologien und Rituale zu bändigen.

Autorentext
Brigitte Kronauer, 1940 in Essen geboren, lebte als freie Schriftstellerin in Hamburg. Ihr schriftstellerisches Werk wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis der Stadt Berlin, mit dem Heinrich-Böll-Preis, dem Hubert-Fichte-Preis der Stadt Hamburg, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Jean-Paul-Preis ausgezeichnet. 2005 wurde ihr von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung der Büchner-Preis verliehen. Brigitte Kronauer verstarb im Juli 2019.

Klappentext

Der vorliegende Band sammelt neunzehn Erzählungen. Der genaue, das Fremde im Vertrauten entdeckende Blick auf den Alltag und die unvergleichliche sprachliche Inszenierung - sie finden sich in diesen Prosamodellen. Um das chaotische Muster unserer Wahrnehmung geht es hier, um den Sternenhimmel unserer Assoziationen, um unsere unvermeidlichen Versuche, die Wirklichkeit durch private Ideologien und Rituale zu bändigen.

Leseprobe
Karin Tanck hatte von der Innenstadt bis hierher, bis zum Küchentisch, an dem sie jetzt, ohne im geringsten zu weinen, noch im Mantel und mit dem Kopf auf den Unterarmen saß, streng genommen schon nicht mehr hingesehen. Den Weg kannte sie im Schlaf. Man mußte nur an einigen unordentlichen Stellen aufpassen. So war sie zuguterletzt vor der Wohnungstür, im Flur, in der Küche gelandet. Da saß sie lange, als schliefe sie nun wirklich, sprang dann aber auf, kochte sich eine Kanne Kaffee, wieder ohne besonders hinzusehen, das war ja alles hundertprozentig eingeübt, erkannte im Starren eine Topfpflanze auf dem Fensterbrett, eine beinahe schon verwelkte, nahm ein Wasserglas und begoß sie grob, beobachtete auch, tat jedenfalls so, während das Wasser durch den Kaffeefilter rann, wie die Erde, die Flüssigkeit aufsaugte, sagte zur Blume: "Armes Schwein! Was kannst du dazu!", hatte aber vorher den Tauchsieder mit dem heißen Wasser sehr schräg gegen den Blumentopf geneigt und also überlegt, ob sie die Pflanze, statt zu gießen, verbrühen sollte. Karin Tanck, die nach ihrer Scheidung in einer Hauptschule als Sekretärin arbeitete und deren Tochter an ihrem 18. Geburtstag sofort zu einem Freund gezogen war, preßte, sobald der Kaffee in der Kanne neben ihr stand und die Küche mit seinem Duft auspolsterte, wieder, ohne zu trinken, die Stirn auf die Unterarme, so fest, daß sie, als sie den Kopf einmal hob, ein rundes Mal von der Armbanduhr über der Nasenwurzel hatte. <