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International bekannte Autorinnen und Autoren loten die Potenziale der Biographieforschung für die Untersuchung des Ineinandergreifens von Individuum und Gesellschaft aus und wenden sich gegen populäre zeitdiagnostische Aussagen zum "Modernen Selbst".
Autorentext
Heidrun Herzberg ist Professorin für Pädagogik und qualitative Sozialforschung an der Hochschule Neubrandenburg. Eva Kammler, Dr. phil., war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Bremen und ist international in der Erwachsenenbildung und Lehrerfortbildung tätig.
Leseprobe
Die äußerst starke Zunahme dessen, was man gewöhnlich als "Individualismus" bezeichnet, hat im Verlauf der letzten vierzig Jahre zu einer neuen Art der Beziehung von Individuum und Gesellschaft geführt und zu einer zunehmenden Vereinnahmung der individuellen Biographien durch die Institutionen. Die Tatsache, dass die biographische Gesellschaft, in der wir uns inzwischen befinden, die Erzählung des Selbst zum Ausgangspunkt und Widerpart von Anerkennung und kollektiver Solidarität macht, hat eine tief gehende Umwälzung sozialer und politischer Bindungen zur Folge. Dies führt zu der Frage nach den paradoxen Folgen des Zwangs, sich mitzuteilen, sich zum Erzähler seines Selbst zu machen, was ein Merkmal dieser Gesellschaft zu sein scheint. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit zwei historischen Zeitpunkten, den siebziger Jahren einerseits, unserer unmittelbaren Gegenwart andererseits. Ich werde zu zeigen versuchen, wie die Erzählung des Selbst und die biographische Dimension im Allgemeinen (das "Biographische"), abhängig von dem jeweiligen ökonomischen, sozialen und kulturellen Kontext dieser beiden Epochen, eine je andere Bedeutung erhalten und zu Verfahren und Praktiken führen, die nicht mehr dieselben sind. Um es schon in der Einleitung in einem Satz zu formulieren: Es stellt sich die Frage, wie der persönliche Gebrauch und Einsatz der Erzählung des Selbst zu einem sozialen wird und welche Konsequenzen eine solche Entwicklung sowohl für den Status der Erzählung des Selbst hat wie auch für die Stellung des Biographischen in der Gesellschaft und für den Prozess der Konstruktion des Selbst. Die Umwälzungen der siebziger Jahre und die Entstehung eines neuen Individualismus In welchem Sinne sind die späten sechziger und frühen siebziger Jahre für unser Thema eine bedeutsame Epoche? Für die Theoretiker und Praktiker der Biographieforschung sind die siebziger Jahre ein vertrauter Bezugspunkt: Tatsächlich entstehen in dieser Epoche neue Richtungen in der Pädagogik, unter anderem die an der Biographieforschung orientierte Richtung in der Aus- und Weiterbildung, insbesondere die ersten Projekte und Arbeiten von Gaston Pineau, zu der Zeit in Kanada, Pierre Dominicé in Genf und Guy des Villers und Michel Legrand in Belgien. Aber die siebziger Jahre sind auch ein wichtiger Bezugspunkt für Historiker, Soziologen, Ökonomen, Anthropologen, d.h. für alle, die versuchen, die charakteristischen Merkmale unserer jüngeren Geschichte zu analysieren, um unsere Gegenwart besser zu verstehen. Was also zeichnet die siebziger Jahre derart aus, dass so viele Gesellschaftsanalytiker in diesem Jahrzehnt einen Wechsel und eine gesellschaftliche Veränderung feststellen, deren Wirkungen wir auch heute noch spüren? Es handelt sich nicht um ein singuläres Ereignis, ein Einzelphänomen, sondern um ein Ensemble, ein Zusammentreffen von Faktoren, deren Konsequenzen wir noch gar nicht ermessen können. Was sich in diesen Jahren bildet, kann auf jeden Fall als eine neue Form der Beziehungen von Individuum und Gesellschaft beschrieben werden, die sich einerseits in einer Verstärkung und einer Neubewertung des Prozesses gesellschaftlicher Individuation niederschlägt, andererseits in der Entstehung eines "reflexiven" Individualismus, der den Wert persönlicher Selbstentfaltung in den Vordergrund stellt. Massenindividualismus In den siebziger Jahren beginnt die Entwicklung von bis dahin nie erreichten Formen der "Individualisierung der Gesellschaft", um einen Ausdruck von Pierre Rosanvallon (Rosanvallon 1995) zu verwenden. Der ökonomische und gesellschaftliche Kontext des letzten Jahrzehnts des Wirtschaftswunders (1965-1975) zeichnet sich aus durch starkes Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und zunehmenden Konsum. Größere Einkommen, die Verbesserung der Lebensbedingungen und der Zugang der Mehrheit der Bevölkerung zur sogenannten Konsumgesellschaft verringern die materiellen Zwänge, die das ökonomische und soziale Leben belasten. Die Auffächerung der sozialen Funktionen, die Zugehörigkeit der Individuen zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus, der Zugang zu anderen Lebensstilen durch Freizeitgestaltung, durch Reisen, aber auch durch moderne Informations- und Kommunikationsmittel führen zu einer Relativierung und Lockerung primärer Bindungen und zu einer Begünstigung von Verhaltensformen, die den traditionellen Autoritäten und Normen weniger stark unterworfen sind. Dieser Kontext aus materiellem Wohlstand, sozialer Offenheit und Variabilität und Lockerung primärer Bindungen führt zu einem größeren Spielraum und mehr Mobilität, sowohl im ökonomischen und sozialen Verhalten wie auch in privaten und öffentlichen Lebensformen. In gewissem Sinne werden die Individuen - natürlich nur relativ - von allen sie unmittelbar belastenden Ordnungszwängen "befreit", ihr sozialer Raum wird größer und ihre Möglichkeiten, zu handeln, sich zu entscheiden und initiativ zu werden, nehmen zu. Neben dieser Entwicklung einer Verstärkung und Beschleunigung gilt es ein weiteres grundlegendes Merkmal festzuhalten, nämlich das der Vermassung, oder wenn man so will, der Demokratisierung der Individualisierungsprozesse. Hier findet ein grundlegender Wechsel in der Reichweite dieser Prozesse statt. Es ist in der Tat jeweils die gesamte Bevölkerung und nicht nur einige Privilegierte, die Zugang zu diesen Formen sozialer Individualisierung erhält, auch wenn natürlich das Ausmaß dieses Zugangs von der jeweiligen gesellschaftlichen Stellung abhängig ist. Man könnte dies einen "vergesellschafteten Individualismus" nennen, um anzudeuten, dass diese Form der Beziehung von Individuum und Gesellschaft alle Mitglieder einer Gesellschaft betrifft und das Produkt einer ganz spezifischen gesellschaftlichen Entwicklung ist, die unmittelbar an die Lebensdingungen einer Gesellschaft gebunden ist, in der die großen regulativen Institutionen (Familie, Kirche, Schule, Betrieb, Gewerkschaften und Parteien et cetera) weniger dominant sind (vgl. Dubet 2002), in der soziale und berufliche Zuweisungen geschmeidiger werden, in der die Existenz und die Lebensläufe der Individuen nicht mehr so strikt und direkt von außen bestimmt werden und so eine singuläre Dimension erhalten. Diese Individualisierung persönlicher Lebensläufe und diese Auffächerung der Biographien sind übrigens eines der markantesten Merkmale dieser Zeit und finden denn auch Anerkennung durch die Institutionen (Einführung der beruflichen Fortbildung in Frankreich im Jahre 1971 und Anerkennung des Rechts auf Fortbildung im Jahre 1978). Hierin kündigt sich die Entwicklung einer Biographisierung der Gesellschaft an, die die nächsten Jahrzehnte bestimmen wird. 2.1 "Reflexiver" Individualismus Derartige gesellschaftliche Phänomene können nicht folgenlos bleiben für das Bild, das die Individuen von sich selbst haben, für das Ausmaß an Initiative und Autonomie, das sie in der Ausübung ihrer sozialen Aktivitäten für sich beanspruchen, für die reflexive Beziehung zu sich selbst, für die Art und Weise, wie sie den Verlauf ihrer eigenen Existenz betrachten, oder, um etwas vertrautere Formulierungen zu verwenden, wie "sie sich ihre eigene Geschichte aneignen" oder wie "sie sich zum Subjekt ihrer Geschichte machen". Dies ist die zweite Bedeutung, die man dem Begriff "Individualismus" zuweisen kann, die einer Rückwendung d…
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