

Beschreibung
Die türkische Immigration nach Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte. Über Jahrzehnte hinweg hat sich eine starke migrantische Mittelschicht etabliert, die bisher überwiegend durch berufliches Unternehmertum gesellschaftliche Mobilität erfahren hat. Entgegen ...Die türkische Immigration nach Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte. Über Jahrzehnte hinweg hat sich eine starke migrantische Mittelschicht etabliert, die bisher überwiegend durch berufliches Unternehmertum gesellschaftliche Mobilität erfahren hat. Entgegen der Annahme, dass einzig das Dispositiv der individuellen Leistung soziale Transformation hervorbringt, verdeutlicht diese Ethnografie, dass das Verhältnis komplexer ist. Im Zentrum der Untersuchung steht das "Mittelschicht-Werden" innerhalb der postmigrantischen Gesellschaft.
»Das Buch ist ein weiterer systematischer Baustein, der komplexe Binnendifferenzierungen der oft als homogen imaginierten Gruppe türkeistämmiger Migrant*innen sichtbar macht. [] Die Forschungsarbeit [liefert] am Beispiel der türkeistämmigen Mittelschicht auch eine weitere Antwort auf aktuelle Diskurse, die versuchen, ethnisch als anders markierten Menschen ihren durch Erfolg und Leistung bereits fest eingenommen Platz in der Gesellschaft abzusprechen und ihre Zugehörigkeit erneut in Frage zu stellen.« Dr. Carina Großer-Kaya, socialnet.de, 01.07.2019
Autorentext
Barbara Lemberger, Dr. phil., ist Mitglied im Labor Migration am Institut für Europäische Ethnologie an der HU Berlin.
Leseprobe
1 Die gesellschaftliche Mitte von Berlin - Migration und Mobilität relokalisiert "Die Türkischstämmigen brauchten keine Aufforderung vom Staat, sich heimisch zu fühlen. Sie haben es gemacht, trotzdem ihnen immer wieder gesagt wurde: Ihr gehört nicht hier her. [] Die Geschichte der türkischen Immigration nach Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte." Feridun Zaimo?lu 1.1 Migration und Erfolg Im Jahr 1985 entstand die türkische Tragikomödie "Gurbetçi ?aban". Im Mittelpunkt steht der junge ledige ?aban, der von Istanbul aus in die Arbeitsmigration nach Köln aufbricht. Voller Elan, erwartungsvoll und in launiger Abenteuerstimmung besteigt der junge Mann den Fernbus. In Köln angekommen, sucht er seine Unterkunft auf - eine von bereits mehreren Gurbetçi-Familien bewohnte Altbauwohnung, wo die räumliche Enge zu permanentem Gezanke führt. Am nächsten Tag stellt sich heraus, dass ?aban ohne gültige Arbeitserlaubnis eingereist ist. Das ist seinem neuen Arbeitgeber, dem Inhaber der Hans-GmbH nur recht, da seine gesamte Produktion und sein Wohlstand auf der Ausbeutung "illegaler" türkischer Arbeitskräfte fußt. Der Hungerlohn, die Erpressungen, Beschimpfungen und alltäglichen Schikanen am Ort der Arbeit in der Fabrik und im Hause des Direktors lassen ?aban die Arbeit schon bald hinwerfen und er ersinnt (wie üblich) eine List: Mit Hilfe seiner Liebsten, einer türkischen Kollegin in der Hans-GmbH, gelingt es ihm, über fiktive Kinder Kindergeld anzusammeln. Davon kauft er eine Kuh, über den Gewinn der verkauften Milch schafft er sich eine Herde an und schließlich eröffnet er in Köln die ?aban GmbH, einen stattlichen Milch- und Schlachterbetrieb. Zuletzt verschuldet sich der Fabrikinhaber der Hans-GmbH beim mittlerweile zu Vermögen und Ansehen gekommenen ehemaligen ausgebeuteten Arbeiter ?aban in solcher Höhe, dass er sie ihm überschreiben muss. ?aban dreht den Spieß nun um und lässt den Direktor und seinen Stab für ihr an den Gastarbeiter/-innen ausgeübtes Unrecht büßen. Diese putzen nun seinen eigenen Mercedes und auch sein eigenes neues Heim. ?abans Klasse ist gerächt und der soziale Aufstieg in grotesker Weise vollzogen. Damit endet der Film. Obgleich es sich hier um ein schnell produziertes und publikumsgefälliges Werk handelt, das die Themen Ausbeutung der Gastarbeiter/-innen auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt sowie den gesellschaftlichen Rassismus in der Bundesrepublik recht plakativ darstellt, ist der Plot eine Kritik, Verspottung und Übertreibung, also eine Satire auf die bundesrepublikanische Ausländerpolitik der Zeit. Denn in den 1980er Jahren konzentrierte sich diese auf Strategien der Rückführung der Arbeiter/-innen und ihren Familien aus dem Süden. Dreh- und Angelpunkt in den öffentlichen Diskursen und zugleich in den migrantischen Kämpfen waren dabei unter anderem der topos Kindergeld4: Mit diesem sicherte sich der Titelheld den Grundstock für seine eigene wirtschaftliche Existenz, nachdem er aufgrund ausbeuterischer Bedingungen die Arbeit in der Fabrik weder weiterführen konnte noch wollte. Die Szenen der Auszahlung des Kindergeldes nehmen im Film einen wichtigen Platz ein und sind mehrdeutig: Zum einen wird Bezug genommen auf den immerwährenden rassistischen Diskurs um problematischen Kinderreichtum von türkischen/muslimischen Familien, den der Titelheld fintenreich zu seinem Vorteil wendet und in Bares münzt. Zum anderen macht sich die Szene zugleich in Komplizenschaft mit der Zuschauerschaft über die Beamten der deutschen Behörden lustig, die ihm den Kinderreichtum von neun Sprösslingen glauben und eine Menge Geld dafür bezahlen. Diese "List" ist, mit Michel de Certeau gesprochen, eine "Möglichkeit für den Schwachen [] ein letztes Mittel [], eine Taschenspielerei mit Handlungen" (de Certeau 1988: 90). Sie erlaubt ?aban, sich aus den Verhältnissen zu befreien und mit dem Aufbau seines eigenen Betriebs "einen Coup zu landen" (ebd.). Gesellschaftstheoretisch gesprochen, ist es dem Helden gelungen, das Kräfteverhältnis zu verändern, aus der anfänglich notwendigen Taktik ist eine "von Macht organisierte Strategie" (ebd.) entstanden. Während erstere damit zu tun hat, Zeitfenster und einen Möglichkeitsraum zu öffnen, ermöglicht letztere in die bestehende Ordnung einzugreifen, indem sich der Held durch die Übernahme der Hans-GmbH und seiner eigenen Familiengründung vor Ort mit etwas Eigenem etabliert: "Das Eigene ist ein Sieg des Ortes über die Zeit. Es ermöglicht, aus den errungenen Vorteilen Gewinn zu schlagen, künftige Expansionen vorzubereiten und sich somit eine Unabhängigkeit gegenüber den wechselnden Umständen zu verschaffen. Das ist eine Beherrschung der Zeit durch die Gründung eines autonomen Ortes (ebd.: 88). [] Die Taktik hat nur den Ort des Anderen. Sie muß mit dem Terrain fertigwerden, das ihr so vorgegeben wird (ebd.: 89). [] Strategien sind somit Aktionen, die aufgrund der Voraussetzung eines Macht-Ortes (der Besitz von etwas Eigenem) theoretische Orte (totalisierende Systeme und Diskurse) schaffen, einen Komplex von physischen Orten artikulieren können, auf die die Kräfte verteilt sind" (ebd.: 91). Die vorliegende Arbeit setzt gewissermaßen am Ende dieses Films an und schreibt ihn fort. Bald 60 Jahre nach den offiziellen Anwerbeabkommen und rund 45 Jahre nach dem Anwerbestopp der Gastarbeit hat sich diese filmische Utopie - die Übernahme der deutschen Fabrik durch die türkischen Arbeiter/-innen und damit die "Gründung eines autonomen Ortes" - ein Stück weit verwirklicht und sie wirkt darüber hinaus. Es hat sich in Deutschland eine migrantisch-türkische Mittelschicht etabliert, die bisher überwiegend über den Pfad von beruflicher Selbständigkeit und Unternehmertum soziale Transformationsprozesse in Gang gesetzt und ökonomische und kulturelle Innovationen durchgesetzt hat: So gehören heute in westdeutschen Großstädten türkische Supermarktketten und Restaurants zum festen Bild der Stadt und ihre Kundschaft besteht längst nicht mehr aus co-ethnics (vgl. Everts 2008). Auch die bundesrepublikanische Esskultur hat sich mit der Präsenz der Einwanderer und Einwanderinnen aus den südosteuropäischen Staaten nach 1960 stark gewandelt, nämlich in Form von Konsum- und Ausgehpraxen sowie in Hinsicht auf Kulinarik und ihrer Funktion als Distinktionsmechanismus (Möhring 2012; Stock 2013). Selbst die Hochkultur, allen voran die Theaterbühnen, unterzieht sich in vielen Städten einer migrantisierenden Metamorphose. In der Musik hat ein oriental-Style die Clubkultur hierzulande längst normalisiert (vgl. Kosnick 2015). Auch im hartumkämpften Hiphop-Business erzielte der deutsch-kurdische Musiker-Unternehmer "Haftbefehl" für den Rap aus Deutschland internationale Reputation und wurde zum Zeitpunkt der Veröffentlich…
