Dem Dichter sein Richter

Die sieben Mitglieder der Samstags-Schreibgruppe sind nicht gerade zimperlich, wenn es gilt, sich gegenseitig Feedback zu geben. Jeder von ihnen lebt in seiner eigenen Welt und diese Welten prallen gerne ungebremst aufeinander. Ein fähiger Gruppenleiter muss her, wenn es trotzdem klappen soll mit dem gemeinsamen Auftritt beim Kulturfest. Dumm nur, dass es davon gleich mehrere gibt - erbitterte Widersacher und mit einer ganz eigenen Agenda im Kopf. Es bleibt spannend bis zum Schluss, ob das Kulturfest als triumphaler Erfolg oder doch eher als gigantische Katastrophe in die Geschichte der Literatur eingehen wird. Auf dem Weg dorthin hauen sich die Protagonisten mehr als 20 geniale Kurzgeschichten um die Ohren. Mal fröhlich-depressiv, mal gruselig, mal zum Schreien komisch. Geschichten, die den Leser immer wieder neu überraschen. Ein großartiges Lesevergnügen! "ERFRISCHEND ANDERS" (vz)

Leseprobe

1. Szene: Beim Kulturdezernenten Ja geht's noch? Was hatte er verbrochen, dass man ihm dieses Angebot machte? Das böse Wort stand im Raum: Schreibwerkstatt. Ach was, Schreibwerkstatt. Laien! Und er sollte eine solche Schreibgruppe leiten, ihnen die Tätigkeit des Schriftstellerns beibringen! Leute, die sich zum Schreiben berufen fühlten, ohne Ahnung zu haben, dass Schreiben hartes Handwerk ist: Schweiß, Verzweiflung, Fleiß, Einsamkeit und Verlust. Normale Menschen eben, keine Schriftteller! Banausen! Eric Herold war aufgesprungen; es hielt ihn nicht mehr auf dem Stuhl, auf dem er bis eben gegenüber von Dr. Demmer am kreisunden Miniatur-Besprechungstisch in dessen Büro gesessen hatte. Eric Herold schnaufte. Er war ein Mann von 37 Jahren, mit rotem Pullunder zu beigem Hemd und Jeans. Drahtbügelbrille und Vollbart, von unteretzter Größe mit leichtem Bauchansatz. Er schnaufte immer noch. Eine lange braune Haarsträhne baumelte ihm über das rechte Auge. Eric konnte es einfach nicht fassen. Er sollte eine Anfänger-Schreibgruppe leiten, sollte den verhinderten Dozenten ersetzen. Der Kurs lief bereits und man verdonnerte ihn, die restlichen Unterrichtsstunden zu halten. Zur Krönung sollte er dann mit diesen verdammten Schreiberlingen bei der Sommer-Kulturveranstaltung in der Stadthalle auftreten. Die Teilnehmer würden dort ihre besten Stücke öffentlich vorlesen. War er denn als Autor, der bereits veröffentlicht hatte, nicht völlig überqualifiziert für diesen Job? Wie hatte sein Germanistikprofessor schon an der Uni so richtig gesagt: 'Sie, Herold, Sie sind das größte Talent, das mir je untergekommen ist. Aus Ihnen wird einmal ein ganz Großer. Ihre Werke sind für die Ewigkeit gedacht, Ihr Durchbruch steht unmittelbar bevor. Glauben Sie an sich, haben Sie Mut! Schreiben Sie!' So hatte er sich ausgedrückt. Oder so ähnlich. Er, ein vielversprechender Schriftsteller und diese, ja, diese Schreibdilettanten. Das konnte nur schiefgehen! Da arbeitete er an seinem Weltruhm, hatte seinen ersten Roman veröffentlicht und nun das! Er verlegte sich aufs Betteln: 'Herr Dr. Demmer, ich wäre ein guter Stadtschreiber. Mit dem Stipendium unserer Stadt und der kostenfreien Wohnung könnte ich ohne finanziellen Druck ein ganzes Jahr an meinem neuen Roman arbeiten.' 'Wissen Sie', fuhr er fort, 'mein Vater will, dass ich in unserem Supermarkt mitarbeite und die Schreiberei sein lasse. Und mein Verlag hält sich vornehm zurück, was einen Vorschuss auf mein neues Werk angeht. Ich brauche keine Schreibgruppe, ich brauche diese Stadtschreiber-Stelle! Ich brauche sie, um Schriftteller bleiben zu können! Ich würde natürlich unsere Stadt in meinem neuen Roman erwähnen, und ich könnte auch Sie einbauen, wenn Sie das' 'Ach was', unterbrach ihn der Kulturzernent. Er legte sein Diktiergerät, das er an den Mund gehalten hatte, ohne genau zu wissen, was es dort sollte, wieder auf den Tisch zurück. Mit seinen knapp 60 Jahren und den vielfältigen Anforderungen des Amtes neigte er zur Vergesslichkeit. Das braune Haar, von seidenen grauen Strähnen durchzogen, gab eine lichte Stirn preis. Mit dem Vollbart und den stets angestrengt zugekniffenen Augen erschien er Eric Herold freundlich, aber unnachgiebig. Dr. Udo Demmer trug eine zum Hemd abgestimmte Krawatte und einen Maßanzug. 'Sie sind nicht der einzige Bewerber auf die Stadtschreiber-Stelle. Ihr letzter Roman ist nicht besonders gut gelaufen und jetzt suchen Sie einen sicheren Hafen. Was ich gehört habe, gelten Sie bei Ihrem Verlag momentan eher als Lowseller. Im Gegensatz zu Herrn Draco Dirites, der sich ebenfalls um die Stadtschreiberstelle beworben hat' 'Draco ist mein Kontrahent?' 'Das kann man so sagen. Sie mit eingerechnet, gibt es genau zwei ernstzunehmende Bewerber um die Stelle. Leider muss ich Ihnen sagen, dass Draco Dirites im Wett¬bewerb um das Stipendium momentan die Nase vorne hat. Er liegt mit seinen Verkaufszahlen im guten Midseller-Bereich. Alle setzen hohe Erwartungen in ihn. Ich habe beruflich guten Kontakt zu seinem Lektor, Herrn Nebel, der ja auch Ihr Lektor ist. Der sieht Draco Dirites ganz klar als kommenden Bestseller-Autor.' 'Ich weiß nicht' 'Hören sie, Herr Herold. Sie sind zweifelsohne ein hochtalentierter Autor. Aber Sie sind jung, stehen erst am Anfang Ihrer Karriere, da muss man auch mal Opfer bringen. Es sind doch nur fünf Unterrichtseinheiten mit anschließender Lesung. Sie würden damit anderen Autoren helfen, denken Sie doch auch einmal an den Nachwuchs.' Eric Herold murmelte: 'Wenn jeder an sich denkt, ist auch an alle gedacht!' Laut fuhr er fort: 'Kunst ist Veranlagung. Das kann man weder unterrichten noch lernen. Ich könnte doch stattdessen' 'Sie könnten gar nichts. Sie können allenfalls den Unterricht dieser Schreibgruppe übernehmen und sich bei der öffentlichen Lesung der Kritik des Publikums stellen. Damit würden Sie mir einen Gefallen tun und gegenüber Herrn Dirites vielleicht ein paar Punkte sammeln im Kampf um das Stipendium. Kein Wenn, kein Aber! Ohne das haben Sie bei mir nicht die geringste Chance.' Eric schluckte. 'Haben Sie Draco auch die Leitung der Schreibgruppe angeboten?', wollte er wissen. 'Sind Sie verrückt? Draco Dirites ist ein. ' 'Ja, ja, ich weiß. Er ist ein Midseller.' Dr. Demmer nickte. 'Also sind wir uns einig? Morgen, Samstag, findet schon die nächste Unterrichtseinheit statt. Hier ist ein Ordner mit Terminen, Räumlichkeiten und Namen der Teilnehmer. Viel Glück und der Muse Segen!' Dr. Demmer lächelte und schüttelte kräftig Erics Hand. Dann geleitete er ihn zur Tür und bugsierte ihn ohne weitere Umstände aus dem Büro hinaus. Dr. Demmer ging zurück an seinen Schreibtisch. Er nahm das Handdiktiergerät vom Tisch, schaute es kurz ratlos an und diktierte dann: 'Elften Tagesordnungspunkt zur Beschlussfassung vorbereiten. Schreibwerkstatt ab jetzt mit Eric Herold.' Das Büro von Dr. Udo Demmer war in grünen und weißen Farben gehalten; der Boden in feinem lindgrün angelegt, Stühle und zwei Aktenschränke fußten auf Messingbeinen. Vom Schreibtisch aus gesehen links, ließen raumgroße Fenster die Silhouette der Innenstadt weich in den Raum hinein fließen. Pfefferminzgeruch lag in der Luft. Die Fenster dämpften den Straßenlärm; nur hin und wieder drang das Stakkato von hohen Absätzen, die durch den Flur eilten, durch die Tür herein. Die neue Praktikantin. Sie trug gerne Stilettos an ihren endlos langen Beinen. Dr. Demmers Blick schweifte in die Ferne. Ein Kulturressort muss mit fester Hand geführt werden. Künstler sind wie Kinder, dachte er. Er war nicht immer Kulturdezernent gewesen. Zunächst hatte er die Verkehrsabteilung geleitet, bald aber gemerkt, dass ihn Kultur mehr reizte. Viel mehr. Deswegen hatte er damals die ersten eigenen Schreibversuche unternommen. Parallel begann er, seinen Lebenslauf beständig um neue kulturelle Erfahrungen zu bereichern, um sich sodann erfolgreich um die Leitung des Kulturdezer…