

Beschreibung
Ole Reuter, alt gewordener Stratege, Humorist und Melancholiker, nimmt sich einen Monat Auszeit: Er reist erneut mit einer Netzkarte per Bahn durchs Land, um zum früheren Lebensgefühl zurückzufinden. Das Ergebnis sieht eher nach einem Teufelspakt aus. Denn die...Ole Reuter, alt gewordener Stratege, Humorist und Melancholiker, nimmt sich einen Monat Auszeit: Er reist erneut mit einer Netzkarte per Bahn durchs Land, um zum früheren Lebensgefühl zurückzufinden. Das Ergebnis sieht eher nach einem Teufelspakt aus. Denn diesmal begleitet ihn auf Schritt und Tritt - irgendwann merkt er es - ein kühl analysierendes Alter ego. Wird dieser Beobachter ihn ins Verderben bringen? 'Zwischen dem Schreiben über einen einzelnen und dem Schreiben über eine Generation, zwischen Schrift, Ironie, Scherz, Trauer und Ernst läßt Sten Nadolnys Buch eine wunderbare Balance.' (Bernhard Schlink in der 'Welt')
Sten Nadolny, geboren 1942 in Zehdenick an der Havel, lebt in Berlin und am Chiemsee. Für sein Werk wurde er unter anderen mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis 1980, dem Hans-Fallada-Preis 1985, dem Premio Vallombrosa 1986, dem Ernst-Hoferichter-Preis 1995 und dem Weilheimer Literaturpreis 2010 ausgezeichnet. Nach seinem literarischen Debüt 'Netzkarte' erschien 1983 der Roman 'Die Entdeckung der Langsamkeit', der in alle Weltsprachen übersetzt wurde, und inzwischen zum modernen Klassiker der deutschsprachigen Literatur geworden ist. Danach veröffentlichte Sten Nadolny zahlreiche Romane, unter anderem 'Ein Gott der Frechheit', 'Er oder ich' und 'Das Glück des Zauberers'. Für seinen Familienroman 'Weitlings Sommerfrische' bekam er 2012 den Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag.
Vorwort
»Nadolny läßt an Deutlichkeit, Anspielungen und Hintersinn nichts zu wünschen.« Bernhard Schlink
Autorentext
Sten Nadolny, geboren 1942 in Zehdenick an der Havel, lebt in Berlin und am Chiemsee. Für sein Werk wurde er unter anderen mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis 1980, dem Hans-Fallada-Preis 1985, dem Premio Vallombrosa 1986, dem Ernst-Hoferichter-Preis 1995 und dem Weilheimer Literaturpreis 2010 ausgezeichnet. Nach seinem literarischen Debüt "Netzkarte" erschien 1983 der Roman "Die Entdeckung der Langsamkeit", der in alle Weltsprachen übersetzt wurde, und inzwischen zum modernen Klassiker der deutschsprachigen Literatur geworden ist. Danach veröffentlichte Sten Nadolny zahlreiche Romane, unter anderem "Ein Gott der Frechheit", "Er oder ich" und "Das Glück des Zauberers". Für seinen Familienroman "Weitlings Sommerfrische" bekam er 2012 den Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag.
Leseprobe
Erstes Kapitel
Netzkarte
August, früher Nachmittag, auf dem S-Bahnsteig in Halensee. Ein etwas zu langer Blick in meine Augen, zwei junge Leute scheinen mich erkannt zu haben. Ich beachte sie nicht und beginne mit meinen Notizen. (Kein Wort über Wirtschaft und Politik!)
Jenseits der Gleise wird in einer Drehtrommel Kies gewaschen. Aus großen Haufen schmutzigen Gerölls wird brauchbarer Schotter, ein verständlicher und produktiver Vorgang, eine Gebetsmühle mit Resultat. Was wäre, wenn dabei Gold anfiele? Lustloses Grübeln über den Goldpreis.
Hier mein Filzstift, hier das erste der rasch noch gekauften sechs Schreibhefte, es ist aufgeschlagen und der Länge nach in der Mitte gefalzt, damit es in die Jacken- oder Hemdtasche paßt. Der Filzstift ist ungeeignet. Seine Schrift färbt durch, bei feuchtem Papier sowieso, ich schwitze zu sehr. Ich kann jedes Blatt nur von einer Seite beschriften. Vielleicht sollte ich das Heft ins Außenfach des »Pilotenkoffers« stecken. Ein unpraktisches Ding aus starrem Kunststoff, ich habe es, fürchte ich, seiner Bezeichnung wegen gekauft.
Am 6. August 1996 stellte ein großer, schwerer, vor Anstrengung schwitzender Mann im S-Bahnhof Halensee zwei Koffer auf den Bahnsteig. Er legte seine Rechte ins Kreuz, richtete sich ächzend auf, blinzelte in die Nachmittagssonne und ähnelte dabei, das war ihm nur zu klar, dem Bild des durstigen Dicken in einer Reklame für Dosenbier. Als Wartende ihn starr anlächelten, blickte er unwirsch weg. Jenseits der Gleise leierte eine Art Kieswaschmaschine, der Mann starrte hinüber, das Geräusch schien ihn zu beruhigen. Er wischte mit dem Handrücken Schweiß von der Stirn, zog aus der rechten Innentasche seines Jacketts ein längs zusammengefaltetes blaues Schulheft, dann aus einer anderen Tasche einen Filzstift, und wollte etwas aufschreiben. Das Heft war feucht geworden, er fand erst weiter innen ein trockenes Blatt, auf dem sich Notizen machen ließen. Immer wieder blickte er in beide Richtungen, aus denen ein Zug kommen konnte, schien sich also zwischen Süden und Norden noch nicht entschieden zu haben. Dann befiel ihn erneut Unruhe, er beugte sich zu den Koffern, tastete in den Außentaschen des kleineren, öffnete den größeren, ohne diesen aber flachzulegen, wodurch Krawatten, Gürtel und Hemdsärmel herausdrängten.
Man kann, wenn man eine Beobachtung notiert, das ICH zum Subjekt machen, aber auch ein ER, obwohl man ICH meint. ICH macht die Gedanken schneller, ER läßt ihnen, des Abstandes wegen, mehr Erfindungsfreiheit. ICH kann nicht so leicht eine ausgedachte, rundweg märchenhafte Geschichte behaupten wie ER. »Ich bin« und »Er ist« das sind Gefäße sehr verschiedener Art. »Er ist strategischer Berater bedeutender Klienten aus Wirtschaft und Politik«, das macht weniger argwöhnisch als ein »Ich bin «. Sofort drängt sich die Frage auf: Was ist das für einer, der so von sich spricht? Ist es denn wahrscheinlich, daß ein ernstzunehmender Mann der Wirtschaft oder Politik sich so anhört? Wir sagen von so einem Ich, es rede reichlich geschwollen, und ziehen unsere Schlüsse daraus. ICH und ER sind zweierlei Netze; mit dem einen fängt man viele kleinere, mit dem anderen wenige und größere Fische.
Entscheidungen empfinde ich fast immer als verfrüht oder, wenn sie bereits getroffen wurden, als falsch. Aber die eigene Unentschiedenheit aushalten zu können, gerade das prädestiniert für den Beraterberuf. Wartenkönnen, regungsloses Lauern, das Element des Skorpions. Warten, bis der Zeitpunkt zum Handeln gekommen ist. Die K. wird sich noch wundern! Ich wei&
