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Francis Mirkovic, alias Yves Deroy, sitzt im Pendolino von Mailand nach Rom, inkognito und erster Klasse reisend, und über ihm, mit einer Handschelle an der Gepäckstange gesichert, ein Metallkoffer voller Dokumente und Fotos - der 'Koffer voller Toten'. Er enthält die Listen von Kriegsverbrechern, Waffenhändlern und Terroristen, die Francis als Agent des französischen Geheimdienstes in den Konfliktzonen des Mittelmeerraums zusammengestellt hat und an den Vatikan verkaufen will, um ein neues Leben zu beginnen. Erschöpft von Alkohol und Amphetaminen lässt er seinen Erinnerungen freien Lauf - an die Entsetzlichkeiten des Balkankrieges, in die er zwei Jahre als Söldner verwickelt war, an die Freunde, die neben ihm starben, an die Menschen von Algier bis Jerusalem, die er ausspionierte, an die Frauen, die er liebte: Stéphanie, die kein Kind 'mit einem Barbaren wie ihm' wollte, oder Sashka, die vielleicht noch in Rom auf ihn wartet. In einem einzigen Satz des symphonisch gestalteten inneren Monologs, im Stakkato des Nachtzugs, mäandernd, sich wiederholend, springt der Erzähler von Ereignis zu Ereignis - vom Blutbad der christlichen Phalange in Beirut 1982 zu Mussolinis Nordafrikakrieg, vom Den Haager Kriegsverbrecherprozess zu seinem Vater, der auf französischer Seite im Algerienkrieg folterte -, benennt die Gräuel aus der Geschichte und Gegenwart des Mittelmeers, die sich zu einem homerischen Fresko der Gewalt formen. Mit seinem Roman Zone erweist der junge Autor Énard einem Epos über den Krieg Reverenz, das zur Gründungsakte der europäischen Literatur wurde: Homers Ilias.
Mathias Enard, geboren 1972 in Niort (Westfrankreich), Studium der Kunstgeschichte und orientalischen Sprachen, lebt, nach längeren Aufenthalten im Nahen Osten, heute in Barcelona, wo er Arabisch lehrt. Für 'Zone' erhielt er in Frankreiche 2008 den 'Prix Décembre' und 2009 den 'Prix du Livre Inter', in Deutschland den deutsch-französischen 'Candide Preis 2008'.
Vorwort
Zwei Jahre nach Jonathan Littells Die Wohlgesinnten ein neuer Höhepunkt in der französischen Literatur: Mathias Énards Roman Zone, eine Irrfahrt durch die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, von Beirut über Vukovar bis Barcelona, im Zentrum das Mittelmeer.
Autorentext
Mathias Enard, geboren 1972 in Niort (Westfrankreich), Studium der Kunstgeschichte und orientalischen Sprachen, lebt, nach längeren Aufenthalten im Nahen Osten, heute in Barcelona, wo er Arabisch lehrt. Für "Zone" erhielt er in Frankreiche 2008 den "Prix Décembre" und 2009 den "Prix du Livre Inter", in Deutschland den deutsch-französischen "Candide Preis 2008".
Leseprobe
I
alles ist schwieriger im Mannesalter, alles klingt falscher ein wenig metallisch wie das Geräusch zweier Bronzeschwerter die gegeneinanderschlagen, sie werfen uns auf uns selbst zurück ohne uns irgendeinen Ausweg zu lassen ein schönes Gefängnis ist das, man reist mit allerhand Zeug, einem Kind das man nicht getragen hat einem kleinen Stern aus böhmischem Kristall einem Talisman, entlang der Schneefelder die man schmelzen sieht nach der Umkehr des Golfstroms Präludium zur Eiszeit, Stalaktiten in Rom und Eisberge in Ägypten, in Mailand hört es nicht auf zu regnen, ich hatte das Flugzeug verpasst vor mir lagen eintausendfünfhundert Kilometer Zugfahrt jetzt sind es noch fünfhundert, heute Morgen glänzten die Alpen wie Messer, ich zitterte vor Erschöpfung auf meinem Sitzplatz und konnte kein Auge zutun, ich bin völlig zerschlagen wie ein Drogensüchtiger, im Zug habe ich ganz laut mit mir selber geredet, oder ganz leise, ich fühle mich uralt, ich möchte, dass der Zug weiterfährt weiterfährt dass er bis nach Istanbul oder Syrakus fährt dass er wenigstens bis zum Ende fährt dass er bis zum Ziel der Reise fahren kann ich dachte oh ich bin wirklich zu bedauern ich habe Mitleid mit mir bekommen in diesem Zug dessen Rhythmus einem zuverlässiger die Seele öffnet als ein Skalpell, ich lasse alles an mir vorbeirauschen alles flieht alles ist schwieriger in diesen Zeiten entlang der Bahngleise ich würde gerne einfach von einem Ort zum nächsten fahren wie es für einen Reisenden selbstverständlich ist gleich einem Blinden den man am Arm nimmt wenn er eine gefährliche Straße überquert, aber ich fahre nun einmal von Paris nach Rom, und im Mailänder Hauptbahnhof, in diesem Echnaton-Tempel für Lokomotiven, in dem trotz des Regens noch etwas Schnee liegt, drehe ich mich im Kreis, betrachte ich die riesigen ägyptischen Säulen, die die Decke stützen, sitze ich auf einer Caféterrasse mit Blick auf die Schienen wie andere mit Blick aufs Meer sitzen und trinke ein Gläschen aus Langeweile, es tut mir überhaupt nicht gut, für ein Besäufnis war es nicht der richtige Zeitpunkt, es gibt so viele Dinge, die einen vom Weg abbringen, irreführen, und dazu gehört auch der Alkohol, der tiefer in die Wunden schneidet, wenn man sich allein auf einem riesigen eiskalten Bahnhof befindet und nur noch ein Ziel kennt, das zugleich vor und hinter einem liegt: der Zug fährt nun mal nicht im Kreis, sondern von einem Punkt zum anderen, ich aber kreise im Orbit wie ein Gesteinsbrocken, ich fühlte mich wie ein nahezu schwereloser Stein, als mich der Mann auf dem Bahnsteig ansprach, ich weiß dass ich Verrückte und Gestörte anziehe, in solchen Zeiten verfangen sie sich gern in meinen Schwächen, finden sie in mir einen Spiegel oder einen Waffenbruder und he der ist echt verrückt Priester einer unbekannten Gottheit er trägt eine Narrenkappe und hält eine Schelle in der linken Hand, die rechte streckt er mir entgegen und schreit auf Italienisch: »ein letzter Handschlag noch, Kamerad, vor dem Weltuntergang«, ich wage es nicht einzuschlagen aus Angst, er könnte recht behalten, er dürfte ungefähr vierzig sein, nicht älter, und er hat den scharfen und inquisitorischen Blick der Irren, die dich löchern, weil sie für einen Augenblick einen Bruder in dir entdeckt haben, ich zögere angesichts der ausgestreckten Hand starr vor Entsetzen wegen dieses irren Lachens und antworte ihm »nein danke«, als ob er mir eine Zeitung verkaufen oder eine Kippe anbieten wollte, woraufhin der Verrückte mit seiner Schelle klingelt mit seiner tiefen Stimme in ein finsteres Lachen ausbricht und auf mich zeigt mit dem Finger der Hand die er mir entgegenstreckt, dann spuckt er aus, geht weiter und der Bahnsteig ist wie leergefegt von einer gewaltigen fast hoffnungslosen Einsamkeit, in diesem Augenblick gäbe ich alles für Arme oder Schultern, sogar den Zug der mich nach Rom bringt, auf alles verzichten würde ich, nur damit jemand hier in der Mitte des Bahnhofs erscheint, zwische