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Harpers Station, Texas, 1895: Claire Nevin hat nach etlichen Enttäuschungen in Harpers Station ein neues Zuhause gefunden. Und eine neue Berufung: Liebevoll kümmert sie sich um die Kranken des Ortes. Doch ein mysteriöser Brief ihrer Schwester reißt sie aus ihrem beschaulichen Alltag. Sie soll an einem bestimmten Tag um eine bestimmte Uhrzeit am Bahnhof eine kostbare Sendung ihrer Schwester in Empfang nehmen. Was um alles in der Welt will ihre Schwester ihr schicken? Erst als Claire wie bestellt am Bahnhof steht, wird ihr klar, dass die richtige Frage nicht Was lauten muss, sondern Wen! Was hatte ihre Schwester sich nur dabei gedacht?
Autorentext
Karen Witemeyer liebt historische Romane mit Happy-End-Garantie und einer überzeugenden christlichen Botschaft. Nach dem Studium der Psychologie begann sie selbst mit dem Schreiben. Zusammen mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt sie in Texas.
Leseprobe
Kapitel 1 Mai 1895, Harpers Station, Texas Claire Nevin runzelte die Stirn angesichts der fröhlichen weißen Wolken, die tanzend über den blauen Himmel trieben, und versuchte ihre Ohren vor dem Gezwitscher der Vögel zu verschließen, mit dem diese den trügerisch schönen Morgen begrüßten. Ignorante Kreaturen! Spürten sie denn nicht, dass es an diesem Tag keinen Anlass zur Freude gab? Für Beklemmungen, ja. Der Brief, der in der kleinen Tasche steckte, die sie um ihr Handgelenk geschlungen hatte, fühlte sich an wie ein Stein. Er forderte wieder einmal ein Opfer von ihr, ohne mehr als ein paar vage Andeutungen zu liefern. Doch Familie war Familie. Claire würde ihre Pflicht tun. Sie würde ihre Angehörigen nicht im Stich lassen, wenn sie ihre Hilfe brauchten. Auch wenn sie ihrer flatterhaften Schwester im Stillen grollte. Wieder einmal hatte diese sich in Schwierigkeiten gebracht, ohne sich um die Konsequenzen zu scheren, und erwartete jetzt, dass ihre ältere Schwester, die einen halben Kontinent entfernt lebte, ihre Probleme löste. Wie es ihr damit ging, interessierte natürlich niemanden. Claire runzelte die Stirn, drückte auf der harten Bank vor dem Gemischtwarenladen von Harpers Station den Rücken durch und strich den Stoff ihres grünen Kleides über ihren Knien glatt. Sie würde sich wegen ihrer wenig schmeichelhaften Gedanken nicht schuldig fühlen. Polly war inzwischen sechzehn. Sie trug schon längst keine kurzen Röcke und Pferdeschwänze mehr. Es wurde höchste Zeit, dass sie ein wenig Verantwortungsbewusstsein lernte. Claire selbst hatte in diesem Alter schon zwei Jahre in Miss Festers Näherei gearbeitet. Mit 14 hatte sie die Schule verlassen aber natürlich nicht ihre Bücher , um in dem kleinen, dunklen Hinterzimmer des Geschäftes zu arbeiten. Regelmäßig hatte sie sich die Finger blutig gestochen, wenn sie Taschentücher und Rocksäume mit zarten Blumenmustern und französischen Knoten bestickt hatte. Für einen Hungerlohn. Doch auch wenn ihr Einkommen lächerlich gewesen sein mochte, hatte sie es immerhin geschafft, Essen auf den Tisch zu bringen, wenn ihr Vater mal wieder sein gesamtes Gehalt im Pub versoffen hatte. Bis heute schickte sie jeden Monat Geld nach Hause. Mit sieben Töchtern, die noch immer ihre kleine New Yorker Wohnung bevölkerten, und einem Ehemann, der seinen Durst einfach nicht kontrollieren konnte, brauchte ihre Mutter jede nur erdenkliche Unterstützung. Claire war froh, dass sie helfen konnte. Froh, alles zu tun, was in ihrer Macht stand es sei denn, dies beinhaltete, nach Seymour reisen zu müssen. In diesem Fall war froh das genaue Gegenteil von dem, was sie empfand. Wo blieb nur Benjamin Porter? Claire tippte ungeduldig mit dem Fuß auf die Holzdielen, dann warf sie einen Blick über die Schulter zum Eingang des Ladens. Der Frachtfahrer war doch sonst immer pünktlich gewesen. Zumindest bis zu seiner Hochzeit. Seither schien er seine Zeit lieber beim Frühstück mit seiner Frau zu verbringen, als seiner Arbeit nachzugehen. Claire ließ die Schultern sinken. Wann war sie zu einer solchen Giftnudel geworden? Ben und Tori waren noch nicht einmal vierzehn Tage verheiratet und sie saß hier und stieß stille Verleumdungen gegen die beiden aus. Seine Zeit mit seiner Frischangetrauten zu verbringen, war genau das, was Mr Porter jetzt tun sollte. Er sollte Tori küssen und dem kleinen Lewis die Haare zerzausen. Schließlich war er nun Familienvater und das sollte an erster Stelle stehen. Immer. Tatsache war, dass sie selbst die Reise nach Seymour so sehr fürchtete, dass sie sich dazu zwingen wollte, weit vor der angesetzten Zeit dort zu sein, um der Versuchung zu widerstehen, gar nicht erst dort aufzutauchen. Wahrscheinlich wusste Mr Porter gar nicht, dass sie schon hier draußen auf ihn wartete. Das Klicken der Vordertür ließ Claire ein Lächeln aufsetzen. Sie wollte dem Mann, der sie mit nach Seymour nehmen würde, eine angenehme Reisebegleitung sein. Nur, dass es nicht Mr Porter war, der nach draußen trat, sondern Tori. »Claire? Warum hast du denn nicht geklopft? Du hättest doch mit uns zusammen frühstücken können.« Tori hielt Claire eine Porzellantasse hin. »Seit Ben bei uns wohnt, mache ich genug Frühstück, um eine ganze Armee zu versorgen. Ich schwöre dir, mein Mann isst mehr, als seine riesigen Pferde verdrücken. Und Lewis versucht natürlich, es seinem neuen Dad gleichzutun, obwohl ich glaube, dass er heimlich die Hälfte an Hercules abgibt.« Claires Lächeln wurde weich, als sie sich vorstellte, wie der flachsblonde Junge das Essen unter dem Tisch an seinen Hund weiterreichte. Ihre zweitjüngste Schwester, Brigid, war ungefähr im gleichen Alter. Auch sie hatte früher ihr mageres Abendessen mit einer kleinen Straßenkatze geteilt, die sich hinter dem Haus herumgetrieben hatte. Ob sie das immer noch tat? Unerwartet durchzuckte ein schmerzlicher Stich Claires Brust. Ihre Mutter und die Mädchen im letzten Sommer zu verlassen, war das Schwerste gewesen, was sie jemals getan hatte. Doch gleichzeitig war es auch das Beste gewesen, was ihr hätte passieren können. »Ich wollte euch nicht stören«, sagte sie mit belegter Stimme. Die Gedanken an zu Hause wollten sie einfach nicht loslassen. Sie nahm den Tee entgegen, den Tori ihr anbot, und rutschte beiseite, um ihrer Freundin Platz auf der Bank zu machen. »Ich habe einen Bissen mit Maybelle gegessen, bevor ich die Klinik verlassen habe.« Tori nippte an ihrem Tee und ließ den Blick über den blauen Himmel schweifen. »Ben und Lewis sind hinten und beladen den Wagen fertig. Gleich kann es losgehen.« »Es ist sehr freundlich von deinem Mann, dass er mich mit in die Stadt nimmt.« »Ist doch gar kein Problem. Obwohl ich schon etwas überrascht war, als er mir gestern von deinem Anliegen erzählt hat.« Tori behielt den Blick auf die Landschaft gerichtet und ließ ihr damit ihre Privatsphäre, doch Claire verspürte einen beinahe schmerzhaften Drang in ihrer ohnehin schon empfindlichen Seele. »Ich kann mich nicht erinnern, dass du Harpers Station in den letzten Monaten verlassen hast.« Tori hob die Teetasse an ihre Lippen. »Nur ab und an zu einer der Farmen, wenn jemand krank war.« Unausgesprochene Fragen hingen zwischen ihnen in der Luft. Tori würde nicht weiter nachbohren, doch Claire fühlte sich inzwischen wie ein übervoller Wasserkessel, der zu bersten drohte, so stark war der Drang, sich ihrer Freundin mitzuteilen. Sie stellte ihre Tasse beiseite und griff in die Tasche, um den Brief hervorzuholen. Ihre Finger zitterten, als sie das Schriftstück ihrer Freundin hinhielt. »Wenn es nach mir ginge, würde ich auch jetzt nicht nach Seymour fahren, aber meine Schwester steckt in Schwierigkeiten.« Tori sah Claire an, die Augenbrauen in einer Mischung aus Neugier und Sorge hochgezogen. »Was für Schwierigkeiten?« Claire zuckte die Schultern. »Das weiß ich nicht. Sie hat es nicht geschrieben, sondern mich nur darum gebeten, heute am Frühzug in Seymour zu sein. Du kannst den Brief gerne lesen. Vielleicht ergibt es ja für dich irgendeinen Sinn.« Tori stellte ihre Teetasse ebenfalls beiseite und griff nach dem Brief. Cla…