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Geschichte und Geschlechter Herausgegeben von Claudia Opitz-Belakhal, Angelika Schaser und Beate Wagner-Hasel
Nach der nationalsozialistischen Ideologie sollte die Geburtshilfe die Gefährdung von Mutter und Kind senken, um die Gesundheit des deutschen Volkes zu bewahren. Das galt freilich nur in Bezug auf »gesunde« und »rassisch reine« Mütter. In diesem Sinne »Hüterinnen der Nation«, erfuhren Hebammen seit 1933 nicht nur einen Statusgewinn, ihre Tätigkeit wurde auch professionalisiert und die Geburtshilfe rationalisiert. Wiebke Lisner untersucht sowohl diesen Aspekt als auch den Alltag der niedergelassenen Hebammen im ländlichen Umfeld. Sie hatten zu den von ihnen betreuten Frauen ein Vertrauensverhältnis aufgebaut und gerieten durch ihren Auftrag, zum Beispiel »erbkranke« Frauen und behinderte Neugeborene an den Amtsarzt zu melden, nicht selten in Gewissenskonflikte.
Autorentext
Wiebke Lisner, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin an der Medizinischen Hochschule Hannover.
Leseprobe
In seinem Vortrag auf einer Tagung der hessischen Hebammenschaft im Juli 1934 umriss der Leiter der Hebammenschule in Mainz, Professor Dr. med. Ernst Puppel, die Anforderungen an Hebammen im Nationalsozialismus folgendermaßen: »Die Überflutung unsres Volkes mit untauglichem Nachwuchs ist riesengroß, sie muß und wird sich [] in absehbarer Zeit erheblich vermindern. Dem Geburtensturz dieser Kreise muß aber als einer negativen Auslese die positive Auslese auf der andern Seite entsprechen []. Mutter und Kind müssen durch unsere Geburtsleitung am Leben erhalten werden, kurz der Geburtsvorgang muß zu einem völlig ungefährlichen Ereignis für Mutter und Kind ausgebildet werden. Jedes [] nicht wieder belebte Kind, jede übersehene Missbildung desselben [] und viele andere Ursachen führen zu einem schmerzlichen Verlust an dem köstlichen Gut der Volksgesundheit.« Ziel der Geburtshilfe war es nach den Vorstellungen Puppels, Lebensgefährdungen für Mutter und Kind unter der Geburt auszuschließen, um den durch die »negative Auslese« herbeigeführten »Geburtensturz« abzufedern und die »Volksgesundheit« zu erhalten. Hebammen nahmen eine zentrale Stellung bei der geburtshilflichen Betreuung der Bevölkerung ein, da 1933 rund 84 Prozent aller Geburten in den Wohnungen der Gebärenden stattfanden und in der Regel ohne ärztliche Hilfe. Insofern sei die Hebamme die »Hüterin der Nation«, der »eine junge Menschenblume und damit eine wichtige Unterlage unsrer nationalen Zukunft anvertraut« sei, formulierte Puppels Tübinger Kollege Professor Dr. August Mayer im Mai 1934. Puppel forderte eine Neuausrichtung der Geburtshilfe. Er fuhr in seinem Vortrag fort: »Wir stehen als Geburtshelfer [] an der Wiege des Volkes. Was hier vernichtet oder auch vernachlässigt wird, kann nie mehr ganz wieder ausgeglichen werden. Die große Bedeutung dieser Dinge wird Ihnen aber erst dann ganz klar, wenn Sie die Einheit Mutter und Kind nicht als Einzelindividuum betrachten, sondern als einen Teil des Ganzen, dem wir alle verantwortlich sind, nämlich unserem deutschen Volke in seiner Gesamtheit.« Der Schlüssel zur Anerkennung eines Menschen als »vollwertiges« und »wertvolles « Mitglied des »Volkskörpers« waren nach nationalsozialistischer Definition »Rassenzugehörigkeit« und »(Erb-)Gesundheit«, wobei Gesundheit mit Leistungsfähigkeit gleichgesetzt wurde. Zum Umgang der Hebammen mit Müttern und Kindern, die als »erbkrank« galten, bemerkte Puppel in seinem Vortrag: »Sie [die Hebammen] müssen die sittlich Gefährdeten und gefährlichen Mitglieder Ihrer Heimatgemeinde kennen, Sie werden schwachsinnige Frauen und Mädchen entbinden, und es dürfte ein Wort bei Ihrem zuständigen Kreisarzt genügen, die Sache in Gang zu bringen.« Damit nahm Puppel Bezug auf die Zwangssterilisation im Rahmen des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und auf seine hierfür entwickelte Operationsmethode. Sie erlaubte es, eine Sterilisation innerhalb von sieben bis 17 Minuten durchzuführen. Im Rahmen der »positiven Auslese« sah er die Aufgabe der Hebammen vor allem darin, eine qualitativ hochwertige Geburtshilfe zur Gesunderhaltung von Mutter und Kind zu leisten. Im Rahmen der »negativen Auslese« hingegen sollten Hebammen ihre Klientel beobachten und dem Kreisarzt »verdächtige« Menschen benennen. Hebammen sollten also in ihrem Bezirk eine Kontrollfunktion »zum Wohl des Volkes« ausüben. Die Forderung Puppels, Mutter und Kind nicht mehr als »Einzelindividuum « zu betrachten, sondern als »Teil des Volkes«, weist auf einen neuralgischen Punkt der Hebammenarbeit während der Zeit des Nationalsozialismus hin: Hebammen betreuten Frauen in der Schwangerschaft, unter der Geburt und im Wochenbett als »Einzelindividuum«. Ihre Berufsausübung war auf die individuelle Situation der einzelnen Frau ausgerichtet, auf die Beobachtung ihres Befindens unter Berücksichtigung ihres sozialen Umfeldes. Die Geburt zu einem guten Ende zu bringen und die Gesunderhaltung von Mutter und Kind, das waren die Ziele, die dem Betreuungsverhältnis zu Grunde lagen. Forderungen nach einer Fokusverschiebung vom Einzelfall zum »gesamten Volk« standen insofern in Widerspruch zur praktizierten Hebammenarbeit. Sie verdeutlichen aber das neu erwachte beziehungsweise verstärkte staatliche und gesellschaftliche Interesse an Geburt und Schwangerschaft und somit auch am Hebammenberuf aufgrund bevölkerungs- und gesundheitspolitischer Überlegungen. Es fragt sich, inwieweit dies eine Aufwertung des Hebammenberufes und eine Veränderung des Arbeitsalltages der Hebammen bewirkte.
Inhalt
Einleitung I Im Umbruch: Der Hebammenberuf von 1918 bis 1945 1 Hebammenberuf, Gesundheitspolitik und Gesundheitswesen 1.1 Gesundheit und Vitalität: Ein Muss für den "deutschen Volkskörper 1.2 Das nationalsozialistische Gesundheitswesen 1.3 Verortung des Hebammenberufes im NS-Gesundheitswesen 2 Hohe Verantwortung am Rande des Existenzminimums: Zur wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Situation der Hebammen 2.1 Reform oder Professionalisierungsschritt? Das Hebammenwesen während der Weimarer Republik 2.2 Ideelle Aufwertung und Vertröstung: Das Hebammenwesen 1933 bis 1939 2.3 Das Reichshebammengesetz: Glanzstück oder mehr Schein als Sein? 3 Entbindungskliniken: Von der Armenfürsorgeeinrichtung zum Zentrum des Fortschritts 4 Haus- oder Klinikentbindung? Der Streit um den idealen Geburtsort II Hebammen im ländlichen Milieu: Das Beispiel Lippe 1933 bis 1945 1 Herrschaft und ländliches Milieu: Lippe im Nationalsozialismus 2 Mehr als "nur" Geburtshelferin: Die Ausbildung an den Hebammenschulen Paderborn und Bochum 2.1 Mütterlich oder rational-sachlich? Kriterien bei der Auswahl der Bewerberinnen 2.2 Selbstbewusst zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet: Zum Lehrinhalt und Ausbildungsalltag 2.3 Fortbildung zur nationalsozialistischen Geburtshelferin 3 Vertraute der Frauen - Vertraute des Staates? Niedergelassene Hebammen in Lippe 3.1 Hausfrau, Mutter und Hebamme? Biografisches von niedergelassenen Hebammen 3.2 Vom Arbeitsalltag der Hebammen 3.3 Mutter der Mütter, Freundin der Frauen oder Dienstleistungsunternehmen? Zur sozialen Position der Hebammen 4 Hebammen-"Schwestern" auf dem Vormarsch: Zur Entwicklung der Klinikgeburtshilfe in Lippe 5 Ein Leben für die Klinik? Zur Lebens- und Arbeitssituation der angestellten Hebammen III Arbeit für die "Gesundung des Volkskörpers": Hebammenhilfe im Zeichen der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik 1 Anti- und Pronatalismus: Die zwei Seiten der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik 2 Der Arm des Staates reicht bis in jede Wohnung: Zur Einbindung der Hebammen in die NS-Bevölkerungspolitik 2.1 Mütter ohne Fürsorge: Zur Mitarbeit der Hebammen bei der Erfassung "Erbkranker 2.2 Kinder ohne Fürsorge: Zur Rolle der Hebammen bei der Kinder-"Euthanasie" 2.3 Mütter im Zentrum der Fürsorge: Hebammen als Erzieherinnen der Frauen …