Tiefpreis
CHF47.90
Auslieferung erfolgt in der Regel innert 5 bis 7 Werktagen.
Welche Vorstellungen von Moral und Ethik gab es im Nationalsozialismus? Dieser kommentierte Quellenband stellt erstmals eine biografisch kontextualisierte Auswahl von Texten akademischer Moralphilosophen vor, die sich im "Dritten Reich" besonders hervorgetan haben. Die Auseinandersetzung mit ihren Ideologemen hilft, die Verbindung von normativem Selbstverständnis und den Verbrechen des Nationalsozialismus besser zu verstehen. Zudem ermöglicht das Buch eine differenzierte Betrachtung der Entwicklung der Moralphilosophie nach 1945.
Autorentext
Werner Konitzer ist als wissenschaftlicher Berater am Deutschen Historischen Museum in Berlin tätig und unterrichtet an der Universität Frankfurt (Oder). Johanna Bach war von 2013 bis 2017 freie Mitarbeiterin des Fritz Bauer Instituts, lehrt Soziologie an der IUBH Frankfurt und promoviert seit 2020 am Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin. David Palme war von 2014 bis 2017 freier Mitarbeiter des Fritz Bauer Instituts und ist seit 2018 Kollegiat am Max-Weber-Kolleg. Jonas Balzer war 2016/17 freier Mitarbeiter des Fritz Bauer Instituts.
Leseprobe
Einleitung 1. Das Projekt Zur Frage, wie die Verbrechen des Nationalsozialismus möglich gewesen sind, wurde in den vergangenen Jahrzehnten viel geforscht. Lange Zeit galt das Forschungsinteresse, soweit es sich auf die Seite der Täter konzentrierte, vor allem deren Psychologie. Ihr Handeln wurde durch verschiedene Besonderheiten, beispielsweise durch autoritätsunterwürfiges Verhalten oder Gruppendynamiken, erklärt. Erst in den letzten 20 Jahren ist eine darüber hinausgehende Problematik in den Fokus getreten: die Feststellung, dass viele Täterinnen und Täter ihre Taten tatsächlich für »gut«, »richtig« oder »notwendig« hielten, dass sie ihre Handlungen also als moralisch begründet ansahen und sie diese auch anderen gegenüber moralisch rechtfertigten. Dieser Umstand lässt sich nicht allein aus »kumulativen Dynamiken« oder ähnlichen psychologischen Prozessen erklären. Er setzt vielmehr so etwas wie geteilte moralische Gründe voraus Gründe, deren Gültigkeit sich die Täter gegenseitig immer wieder versicherten und die die normative Selbstverständlichkeit des Täterkollektivs prägten. Intuitiv ist es klar, dass es ausgeschlossen ist, den nationalsozialistischen Massenmord moralisch zu begründen. Aus der historischen Erfahrung der nationalsozialistischen Verbrechen hat Adorno einen neuen »kategorischen Imperativ« formuliert, den Hitler den Menschen »im Stande ihrer Unfreiheit [] aufgezwungen Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe«. Das Grundprinzip aller Moral nach Auschwitz müsse die Verhinderung ähnlicher Verbrechen sein. Zu erklären, wieso die Verhinderung einer Wiederholung von so etwas wie Auschwitz der wichtigste Imperativ ist, ist nach Adorno angesichts der Grausamkeit und Reichweite des Ereignisses weder nötig noch möglich. Wer ihn dennoch in Frage stelle, das heißt die Möglichkeit in Betracht ziehe, dass man Auschwitz moralisch begründen könne, begeht Adorno zufolge einen »Frevel«. Denn die Infragestellung würde bedeuten, den millionenfachen Mord zumindest hypothetisch für akzeptabel zu halten. Die Gültigkeit des Imperativs, den Adorno formuliert, ergibt sich nach seiner Auffassung also allein aus der Erfahrung des Geschehenen. Bei den Texten, die wir hier dokumentieren, handelt es sich um nationalsozialistisch orientierte Schriften aus dem Bereich der Ethik. Ihre Autoren waren sicherlich in unterschiedlicher Weise auch von der Intention geleitet, so etwas wie nationalsozialistische Moral zu formulieren. Fast alle Texte wurden vor Auschwitz geschrieben. Sie sind jedoch Ausdruck jenes normativen Klimas in der damaligen deutschen Bevölkerung, das die Verbrechen von Auschwitz möglich machte. Die wechselseitige Versicherung innerhalb der deutschen Bevölkerung, das Richtige zu tun, und die damit wohl auch verbundenen moralischen Hochgefühle waren stärker als alle moralischen Bedenken und Skrupel. Die für diesen Band ausgewählten Schriften sind auch Versuche der Rechtfertigung eines solchen Klimas. Weil sie vor Auschwitz entstanden sind, sollten sie jedoch nicht als unmittelbare Rechtfertigung der Verbrechen missdeutet werden. Ihre Autoren legen jedoch Moral und Ethik in einer Weise aus, dass sich aus den resultierenden ethischen Überzeugungen kein grundlegender Einspruch gegen die nationalsozialistischen Verbrechen ergibt. Eine Auseinandersetzung mit Ethiken aus dem Nationalsozialismus ist ein wesentlicher Beitrag zum Verständnis der Funktionsweise und Struktur nationalsozialistischer Normativität. Ethiken sind Schriften, in denen es darum geht, allgemeine Gründe für Handlungen und Einstellungen herauszuarbeiten und darzustellen. Man kann zwischen tatsächlichen und vermeintlichen Gründen unterscheiden. Wenn mein Nachbar mir nach dem Leben trachtet und etwas unternimmt, um seinen Plan in die Tat umzusetzen, ist das ein Grund, mich vor ihm zu schützen. Wenn ich nur glaube, dass er das tut, etwa weil ich paranoid bin oder weil ich ihn nicht mag und insgeheim meine Wohnung um seine erweitern möchte, dann ist das kein wirklicher, sondern nur ein vermeintlicher Handlungsgrund. Nach aller historischen Erfahrung ist es klar, dass es sich bei den allgemeinen Gründen, die zu den Gedankengebäuden nationalsozialistischer Ethiken geformt wurden, nur um vermeintliche Gründe handeln kann. Sie werden als solche jedoch nur sichtbar, wenn man auch bereit ist, sich mit diesen Gedankengebäuden auseinanderzusetzen. Bei der Veröffentlichung dieser Texte geht es nicht vorrangig darum, eine weitere Forschungslücke in der Erforschung des Nationalsozialismus, etwa hinsichtlich der Motivation der Täter, zu schließen. Im Gegenteil: Wir halten die Auseinandersetzung mit diesen vermeintlichen Gründen für eine Aufgabe des öffentlichen politisch-ethischen Diskurses. Zwar wurde das nationalsozialistische Regime vor nunmehr 75 Jahren militärisch besiegt, aber die Entstehungs- und die Wirkungsgeschichte der nationalsozialistischen Ideologie reichen weit über seine Geschichte hinaus. Die Entstehungsgeschichte erstreckt sich, wie die Forschung der letzten Jahrzehnte gezeigt hat, über die Geschichte des christlichen Antijudaismus wie des deutschen Nationalismus. Die Wirkungsgeschichte des Nationalsozialismus betrifft auch die Geschichte der deutschen Gesellschaft nach dem Krieg: Viele Studien, von der Gruppenstudie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung über die in den letzten Jahren erschienenen historiographischen Forschungen zur Geschichte von Unternehmen, Ministerien und Familien bis hin zu sozialpsychologischen Untersuchungen zum Thema Transgenerationalität, haben deutlich gemacht, in welchem Ausmaß die Realität in den beiden Nachfolgestaaten des nationalsozialistischen Deutschlands vom Fortwirken der nationalsozialistischen Mentalität geprägt war. Doch auch weit über die Grenzen Deutschlands hinaus sind nationalsozialistische Einstellungen zu einer Art Genre mit einer eigenen Geschichte und einer eigenen Verbreitung geworden. Da diese Denk- und Handlungsweisen in der Welt sind, muss man sich mit ihnen immer wieder erneut auseinandersetzen. Dies gilt in besonderem Maße für die Philosophie, in der diese Beschäftigung weitgehend ausgeblieben ist. Von der Veröffentlichung der in diesem Buch dokumentierten Texte erhoffen wir uns insbesondere eine Diskussion im Bereich der Moralphilosophie. Es handelt sich um Auszüge aus Ethiken, die teilweise bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten, teilweise erst unter ihrer Herrschaft verfasst wurden. Sie alle haben miteinander gemeinsam, dass sie Zeugnisse des Versuchs sind, eine spezifische nationalsozialistische Ethik zu formulieren und in einigen Fällen auch zu begründen. Mit dieser Einschätzung widersprechen wir zwei geläufigen Thesen, die häufig zum Verhältnis von Moral und Ethik einerseits und Nationalsozialismus andererseits aufgestel…
Tief- preis
Tief- preis