











Beschreibung
"Im Winter fanden wieder die Zirkelabende von der FDJ statt. Aber die meisten Dinge dort berührten mich überhaupt nicht, so zum Beispiel Marx und Engels, Liebknecht und Luxemburg, Lenin und Stalin. Ich hatte andere Sorgen: Wie überleben wir das alles, war mein..."Im Winter fanden wieder die Zirkelabende von der FDJ statt. Aber die meisten Dinge dort berührten mich überhaupt nicht, so zum Beispiel Marx und Engels, Liebknecht und Luxemburg, Lenin und Stalin. Ich hatte andere Sorgen: Wie überleben wir das alles, war meine wichtigste Frage. Von mir wollten die Anderen oft wissen, was ich in Königsberg und Litauen erlebt hatte. Manchmal habe ich gesagt, dass ich nicht immer darüber sprechen kann, weil all die furchtbaren Erinnerungen wieder in mir hochkamen und ich alles nachts wiedererlebte. Aber ich schwieg auch aus einem anderen Grund: Es war offiziell verboten, über Flüchtlinge', Heimatvertriebene' oder gar Wolfskinder' zu sprechen. Der Staat bezeichnete uns als Übersiedler' und betonte, dass wir freiwillig in die DDR gekommen seien." Nach ihrem Buch Ich war ein Wolfskind aus Königsberg (ebenfalls erschienen bei der edition riedenburg, ISBN 978-3-902647-09-2) berichtet die 1935 in Königsberg (Ostpreußen) geborene Ursula Dorn nun über die Fortsetzung ihrer tragischen Geschichte. Dem Krieg entronnen bleibt sie auch in der DDR fremd und nutzt 1953 die Chance zur Flucht in die Bundesrepublik. Doch auch im goldenen Westen ist das Leben als Flüchtling äußerst beschwerlich. Durch ihre zupackende Art gelingt es Ursula allen Schwierigkeiten zum Trotz, sich nach vielen harten Jahren eine glückliche Existenz aufzubauen. Das Wolfskind Ulla kommt als junge Frau endlich wirklich in dem von ihr ersehnten Leben an. ** "Das Wolfskind auf der Flucht" beinhaltet etliche seltene Facsimile-Abdrücke, darunter: 1948: Quarantäne-Bescheinigung des Quarantänelagers Siebenborn in Eisenach (Thüringen) 1949: Abschlusszeugnis der Deutschen Einheitsschule, Grundschule Weißbach 1953: Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, Staatssekretariat für Berufsbildung: Ursulas Facharbeiterzeugnis für die Prüfung als Knopfmacher. 1953: Ursulas Laufzettel für das Aufnahmeverfahren im Lager Spandau, Berlin West 1954: Ursulas Meldekarte vom Arbeitsamt Hamburg, Durchgangslager Hamburg-Wandsbek, Fürsorgeabteilung 1954: Ursulas Einweisungsbescheid (Registrierschein) des Durchgangslagers Hamburg-Wandsbek nach Nordrhein / Westfalen 1954: Ursulas Arbeitslosen-Meldekarte vom Arbeitsamt Kempen * 1955: Bundesrepublik Deutschland, Ursulas Ausweis für Vertriebene und Flüchtlinge.
Autorentext
Über sechs Jahrzehnte sind vergangen, bis die 1935 in Königsberg (Ostpreußen) geborene Ursula Dorn den Mut fasste, das zu erzählen, was sie als 10-jähriges Kind erfahren musste. Sie lebt heute mit ihrer Familie in der Nähe von Göttingen. In ländlicher Abgeschiedenheit hat sie die Ruhe gefunden, ihre Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg zu bewältigen. Die Erinnerungen an ihr Dasein als Wolfskind hat sie in einer packenden Geschichte verarbeitet.
Leseprobe
Zwischen Hitler und Stalin In der Firma wurden wir Lehrlinge viel in der Produktion eingeteilt. Ich rackerte, so viel ich nur konnte, um immer über 100 Prozent zu erreichen. Die Frauen in der Produktion meckerten oft, weil ich ihnen die Akkordsätze kaputtmachen würde. Ich habe es aber aus der Not heraus gemacht, damit mir die Prämie sicher war. Ich brauchte doch das Geld. In der Berufsschule wurden am Ende der Ausbildung viel mehr Arbeiten geschrieben, aber da kam ich ganz gut mit. Dass meine Zensuren gut ausfielen, hieß, dass sich die Mühe für mich gelohnt hatte. In Gegenwartskunde beschäftigten wir uns des Öfteren mit Amerika und dem Kapitalismus. Da ging es hoch her, denn vom Kapitalismus wollte natürlich in der Stalinzeit keiner was wissen. Unser Lehrer Albrecht sagte: Es wird eines Tages so kommen, dass sich der Kapitalismus an seinem eigenen Reichtum zerfleischt, so wahr ich hier stehe. Dann ging ich zu Inge, erzählte ihr alles und sie sagte: Ulla, jetzt überlegen wir beide mal, was Kapitalismus ist. Dann fingen wir in unserem Dorf an. Es gab Leute, die mussten beim Bauern arbeiten, um zu überleben, dann gab es hier ein Gut, deren Besitzer noch mehr als die Bauern hatten, und Firmeninhaber hatten mehr als die Handwerkerstätten. Und dann ging es immer höher, bis zum Beispiel in der DDR der Staat alles hatte. Also war es doch Staatskapitalismus, oder? Inge meinte: Mensch, Ulla, wie hast du das rausbekommen? Ich hatte einfach bei mir selber angefangen, denn ich besaß gar nichts, noch nicht mal ein eigenes Bett. Wir gingen zu Inges Mutter und erzählten ihr unsere Theorie und sie lachte darüber. Es kamen noch viele solcher Themen und ich habe mir meine eigenen Gedanken gemacht. Eines Tages gab es den Spruch Butter statt Kanonen' für das Volk. Das konnte ich mal vorbehaltlos unterstützen, denn Butter gab es nur auf Marken für jeden zugeteilt, weil alles nach Russland ging. Von Eiern bis Heu für die Kühe, es ging alles weg. Nur mit Parolen konnte man ein Land nicht aufbauen. Überall in der DDR sah man Stalinbilder, in jeder öffentlichen Einrichtung Schulen, Firmen, Kaufläden, Gaststätten, Kindergärten. Stalin war allgegenwärtig und nicht wegzudenken. Da hatten wir gerade das mit den Hitlerbildern hinter uns gebracht, und nun? So kann es mit hochgefeierten Staatsmännern enden. Aber langsam begann man jetzt Ordnung im Staat zu spüren. Die Jugendlichen und Kinder gingen meist begeistert zur FDJ und den Pionieren, aber die Erwachsenen wollten sich weniger politisch betätigen. Ich unterhielt mich zum Beispiel mit meiner Mutter, aber die sagte nur: Da will ich nichts von wissen. In den Städten wurden nun zunehmend unschöne Betonbauten errichtet, Hauptsache, die Menschen kamen irgendwo unter. Und in den Geschäften wurde es immer leerer. So kam es, dass immer mehr Ware gegen Ware getauscht wurde. Meine Hoffnung auf eine bessere Zeit ging mehr und mehr verloren. [.] Aufruhr Als ich mal ein paar Jugendliche, die ich von der Lehre kannte, in Schmölln auf dem Marktplatz traf, sagten sie zu mir: Ulla, bei uns in der Firma, da sind die Leute ganz aufgebracht und tuscheln immer. Unruhe läge in der Stadt und im ganzen Land. Mir fiel wieder ein, dass ich das am Ende der Lehrzeit ja ebenfalls bei unseren Leuten bemerkt, es aber wieder verdrängt hatte. Als ich das nächste Mal in Weißbach war, berichtete ich Inge davon. Sie meinte, auch in ihrer Firma, einer Schuhfabrik, ginge es so zu, aber alles würde ganz geheimnisvoll behandelt. Irgendwie kam bei uns ein beklemmendes Gefühl auf, aber wir konnten uns keinen Reim darauf machen. Es sollte aber nicht lange verborgen bleiben: Am 17. Juni 1953 frühmorgens begann der Aufruhr in der Stadt. Die Straßen füllten sich mit Menschenmassen, alle versammelten sich auf dem Marktplatz. Eine aufrührerische Gruppe holte die Mitarbeiter aus allen Betrieben. Da wir ganz in der Nähe vom Marktplatz das Café hatten, hielt es auch unsere Leute aus dem Laden und der Backstube nicht und sie gesellten sich zu der Menschenmenge. Ich hatte große Angst und traute mich nicht auf die Straße. Ich fragte Frau Hoppe, was da überhaupt los sei, worauf sie meinte: Ulla, das ist ein Aufstand vom Volk gegen die Regierung. Da wurde mir plötzlich klar, warum die Leute vor Monaten in der Knopffabrik über schlechte Löhne für viel Arbeit geschimpft hatten. [.] Fluchtpläne Bei Hoppes erhielt ich am Ende des Monats zusätzlich zu Unterkunft und Essen noch 25 Mark. Die Hälfte davon gab ich meiner Mutter zum Leben, für alles Andere musste sie sich bei den Bauern in Weißbach selbst Geld verdienen. Ich hatte nicht mehr, denn ich selber konnte mir von den paar Mark kaum was leisten. Im Café war Vera, eine junge Verkäuferin, beschäftigt, mit der ich mich ein wenig angefreundet hatte. Sie erzählte mir, dass sie Verwandte im Westen habe. Die sagte immer zu mir: Irgendwann verändere ich mein Leben. Ich will doch nicht ewig in der Konditorei arbeiten. Ich fragte mich, ob sie übergeschnappt sei. So eine schöne Arbeit und nun wollte sie was Anderes machen. Eines Tages kam Herr Hoppe und informierte uns, dass unsere tüchtige Verkäuferin in den Westen abgehauen sei, nach Osnabrück. Für mich …