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Nach 1989 war die Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung in der DDR einer harschen Kritik ausgesetzt, die sich auf die angebliche Ausgrenzung von geistig behinderten Menschen aus dem Erziehungs- und Bildungssystem der DDR bezog. Das Thema dieser Untersuchung ist die Darstellung der Entwicklung einer Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung in der ehemaligen DDR, wobei die Aspekte der Bildungsfähigkeit und der Ausgrenzung vor dem Hintergrund sozialistischer Pädagogik besondere Beachtung finden sollen.
Anhand von verschiedenen Publikationen wird untersucht, wie in der DDR sowohl in der Theorie als auch in der Praxis mit geistig behinderten Menschen umgegangen wurde, welches Menschenbild der Geistigbehindertenpädagogik zu Grunde lag und welche Zielsetzungen Bildung und Erziehung in der DDR zu erfüllen hatten.
Galten Menschen mit einer geistigen Behinderung in der DDR als uneingeschränkt bildungs- und schulfähig, so dass ihnen Möglichkeiten zur schulischen und außerschulischen Bildung und Erziehung gegeben wurden, war anerkannt, dass Bildung und Erziehung Konstitutiva des Menschseins sind und somit jeder Mensch bildungsfähig ist oder gab es tatsächlich Tendenzen der Ausgrenzung und praktizierte Exklusion?
Autorentext
Tobias Niemann, geb. 1964, ist Diplom-Biologe und hat in Neurowissenschaften promoviert. Seit 1998 ist er freiberuflicher Autor und seit 2005 Geschäftsführer eines interdisziplinären Forschungszentrums für Neurowissenschaften in Göttingen.
Leseprobe
Textprobe:
Kapitel 4.4 Menschenbild der Rehabilitationspädagogik: Das Menschenbild der DDR wurde als ein sozialistisches gekennzeichnet, aus dem das sozialistische Erziehungsziel die allseitig gebildete, harmonisch entwickelte sozialistische Persönlichkeit abgeleitet wurde. (Hübner 2000, 115). Auch die Terminologie der Rehabilitationspädagogik war ideologisch durchdrungen: Die Pädagogik Geschädigter (Rehabilitationspädagogik, Hilfsschulpädagogik usw.) in der DDR existierte nicht in einer ökologischen Nische. Sie war ideologisch und durch die Machtverhältnisse bestimmt wie andere gesellschaftliche Bereiche (Hustig 1991, 42).
Die gesellschaftliche Stellung eines Menschen in der DDR wurde weitgehend durch den ökonomische Aspekt bestimmt. Schon in Punkt 3. 2 habe ich den nach dem 2. Weltkrieg führenden Sonderpädagogen der DDR Dahlmann zitiert, der den ökonomischen Nutzwert von Menschen mit Behinderung akzentuierte. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass innerhalb der neu entstandenen Rehabilitationspädagogik ebenfalls die Arbeit als wesenbestimmendes Merkmal gesehen wurde und der ökonomischen Nutzen eines Menschen im Mittelpunkt des Denkens stand. Arbeit galt als einer der wichtigsten Faktoren für die Selbstverwirklichung des Menschen (vgl. Hübner 2000, 116). Diese Auffassung beruhte auf den pädagogischen Leitlinien marxistischer Prägung (siehe Punkt 2), die nun zu Leitlinien des Menschenbildes der Rehabilitationspädagogik gemacht wurden. Diese Annahme und dieser hohe Leistungsanspruch wurde ebenso auf Menschen mit einer Schädigung übertragen, so dass zwangsläufig ein Spannungsfeld zwischen Teilhabe an der Gesellschaft und Ausgrenzung einer großen Anzahl von Menschen entstand. Die Rehabilitationspädagogik ging jedoch noch einen Schritt weiter. Um physische psychische Schädigungen weiter auszudifferenzieren, ist eine normative Kennzeichnung des Lernens in der Unterscheidung von lernfähig vs. lernunfähig vorgenommen worden. Jeder Mensch wurde zwar als lernfähig bezeichnet, aber nur sofern er über die biologischen Vorbedingungen einer menschlichen Entwicklung verfügt. (Becker 1972, 7) Die fehlenden Vorbedingungen zur menschlichen Entwicklung wurden demnach am Lernbegriff festgemacht, d.h. Menschen mit einer schweren geistigen Behinderung verfügten nicht über die Fähigkeit zu lernen. Als lernunfähig gelten die derart komplex und hochgradig Geschädigten, die in der medizinischen Terminologie als Idioten bezeichnet werden und sich in neuropsychiatrischen Kliniken als Pflegefälle befinden. (Becker 1972, 7) Diese absolute Grenzziehung stand in einem klaren Gegensatz zum wissenschaftlichen Selbstverständnis der Rehabilitationspädagogik (siehe Punkte 4.2) wo es hieß, dass die Schulbildungsfähigkeit kein Kriterium bei der Bestimmung des Personenkreises sei, für den sich die Rehabilitationspädagogik zuständig sah. Erst als in den 70er Jahre Schulbildungsfähigkeit nicht mehr mit Lernfähigkeit gleichgesetzt wurde, begann die Rehabilitationspädagogik ihre Defektsicht zu überwinden und ihr Augenmerk auf das Vorhandensein von Fähigkeiten zu richten. Individuelle Fähigkeiten des Menschen wurden von da an als Ausgangspunkt für die rehabilitationspädagogische Förderung bestimmt, die Unterscheidung in lernfähig und lernunfähig ist jedoch bis 1989 nie vollständig revidiert wurden. Zwei Fachrichtungen innerhalb der Rehabilitationspädagogik beschäftigten sich speziell mit dieser Problematik: