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Nietzsche im Osten
Die Philosophie der DDR wird von vielen als reine Ideologie und Nicht-Philosophie im Dienste des Staates bewertet. Stefania Maffeis hingegen stellt die DDR-Philosophie differenziert dar: als Feld im Sinne von Pierre Bourdieu, das mit den politischen Instanzen auf komplexe Weise verwickelt war und sich erst unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen und unter dem Einfluss von Personen, Positionen und Institutionen entfalten konnte. Am Beispiel der Nietzsche-Rezeption stellt Stefania Maffeis den strukturellen und sprachlichen Wandel der DDR-Philosophie dar. Nicht zuletzt nimmt sie auch die Veränderungen infolge des politischen Umbruchs von 1989 in den Blick.
Vorwort
Nietzsche im Osten
Autorentext
Stefania Maffeis, Dr. phil., forscht im Bereich der politischen Philosophie und lebt als freie Übersetzerin und Dolmetscherin in Berlin.
Leseprobe
Beispielhaft für den kulturpolitischen Diskurs um den Humanismus sind einige Dokumente zur Gründung des Kulturbundes, 1945, und der ersten Kulturtage der KPD und der SED, 1946 und 1948. Das Manifest des Kulturbundes proklamierte die "Ausrottung der faschistischen Ideologie" (Dietrich 1983: 64) als Hauptziel der deutschen Intelligenz und setzte Humanismus und klassische deutsche Philosophie als Gegenparadigma der "barbarischen Umwertung aller Werte" (ebd.: 63): Der "Geist der Wahrheit" müsse gegen den "Lug und Trug" des Nationalsozialismus kämpfen (ebd.: 62). Mit einer ähnlich einfachen begrifflichen Gegenüberstellung verteidigte Wilhelm Pieck auf dem ersten Kulturtag der KPD die Ideale des klassischen Humanismus der "Freiheit" und "Humanität", "Bildung", "Frieden" und "Fortschritt" gegen den Nationalsozialismus als "Rassenirrwahn, Gewaltanbetung, Chauvinismus und Militarismus" (Pieck [1946] 1983: 103). Die nationale identitätsstiftende und aufklärerische Bedeutung des Humanismus wurde von dem damaligen Verantwortlichen für Kultur im ZK der KPD, Anton Ackermann thematisiert: "Und wenn wir von Humanismus, von Freiheit, Demokratie und Völkerverständigung als dem inneren Gehalt der kulturellen Erneuerung sprechen, so kann dieser Inhalt nur in den nationalen, unseren deutschen Eigenarten entsprechenden Formen gefasst werden." (Ackermann [1946] 1983: 128) Nur zwei Jahre später, auf dem ersten Kulturtag der SED, verschob er die identitätsstiftende Funktion der Tradition von der klassischen deutschen Philosophie zum Marxismus. Sein Motto hieß nun: "Der Marxismus ist der neue, reale Humanismus" (Ackermann [1948] 1983: 266). Darunter verstand er die Lehre des Dialektischen und Historischen Materialismus und die Kultur der Sowjetunion. Hans-Georg Gadamers Reden von 1945 bis 1947 erhellen beispielhaft die konservative Position des philosophischen Diskurses um den Humanismus. In seiner Rede vor der Leipziger Lehrergesellschaft definierte Gadamer den Nationalsozialismus als "Wahnbild der völkischen Weltanschauung" (Gadamer [1945] 1967: 11). Er stimmte den Argumenten der ideologischen Entnazifizierung zu, reflektierte aber nicht seine eigene Rolle im Nationalsozialismus, sondern sprach lediglich von einer "Abhängigkeit der Vernunft" von der Politik, die ein neuer Humanismus als "Menschwerdung" (ebd.: 20) überwinden soll. In seiner Rektoratsrede von 1946 stellte Gadamer heraus, dass dieses Projekt eine allgemeine philosophische Entpolitisierung und "Weltfremdheit" bedeuten soll (Gadamer [1947] 1985: 292). Philosophie zu betreiben sei eine "Tugend", eine "Kraft der Sachlichkeit", der "Entschiedenheit" und der "Bescheidenheit" (ebd.: 293), die nicht gelernt werden kann. In seiner Rede vor dem Kulturbund 1947 (Gadamer [1947] 1967: 21-38) stützte sich Gadamer auf die klassische deutsche Tradition, um die Philosophie als "Walterin des Ursprünglichen" und "Sprache des Dichters" (ebd.: 30f.) zu definieren. 1949 wurden BRD und DDR gegründet. Von nun an begann in der DDR eine Stalinisierungsphase. Die SMAD wurde aufgelöst, jedoch deren politische Funktionen von einer Sowjetischen Kontrollkommission übernommen. Es wurde ein zentralistischer Staatsapparat unter der Führung der SED gebildet. Dazu kamen Parteisäuberungen sowie die Anpassung der SED-Struktur und des gesamten politischen und wirtschaftlichen Systems an das sowjetische Modell. Ideologisch wurde ein Personenkult um Stalin verbreitet. Seine Texte zu Sprachwissenschaft und Ökonomie des Sozialismus wurden unter Wissenschaftlern stark rezipiert. Die gesamte sowjetische Literatur wurde in großem Maß übersetzt, gedruckt und verbreitet (Weber 1999: 123-162). Auch die DDR-Philosophie wurde von nun an sowjetisiert. In den Zeitschriften Einheit, Aufbau und Neue Welt wurden marxistisch-leninistische Grundlagentexte, Aufsätze sowjetischer Autoren, insbesondere Stalins, publiziert und als Bekenntnis zur Sowjetunion politisch interpretiert (vgl. hierzu Rauh 2001). Parallel wurden in den Verlagen Dietz und Aufbau Klassiker des Marxismus-Leninismus abgedruckt, darunter Stalins Text Kurzer Lehrgang zur Geschichte der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion (B) von 1938 und von 1950 bis 1955 erschienen seine sämtlichen Werke in 13 Bänden. 1949 begann das Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED diese Klassikerpublikation und veröffentlichte auch Lenins Materialismus und Empiriokritizismus (1951), die zur Pflichtlektüre der DDR-Philosophie wurde. Nach Stalins Tod (1953) und den Massenstreiks und Demonstrationen am 17. Juni 1953 gegen die SED-Politik des Neuen Kurses entstand im kulturellen Feld eine Hoffnung auf politische Veränderungen. Einige Intellektuelle organisierten sich gegen den Stalinismus und den kulturellen Dogmatismus (vgl. Mittenzwei 2003: 103-127; Prokop 1997: 72-83). Einer dieser Intellektuellen, Wolfgang Harich, wurde Chefredakteur der 1953 erstmals erscheinenden DZfPh. Er versuchte, in der Zeitschrift eine von stalinistischer Ideologie emanzipierte Linie durchzusetzen und einen "Frühling der DDR-Philosophie" (Burrichter 1984) zu initiieren. Einige philosophische Kontroversen konnten sich in den ersten drei Jahren der Zeitschrift relativ offen entwickeln, bis 1956 durch die Verhaftung der Gruppe um Harich die Position der Heterodoxen politisch und philosophisch brutal ausgeschaltet wurde.
Inhalt
Einleitung 1 Theoretisch-methodischer Rahmen 1.1 Eine Feldanalyse im Sinne Pierre Bourdieus 1.2 Institutionsanalyse 1.3 Interview-Methode 2 Forschungsstand 1989-2006 2.1 Die Kaderphilosophie 2.2 Die politische Aufarbeitung der DDR-Philosophie 2.3 Stellungnahmen, Fall-Dokumentationen und (Selbst-)Porträts von DDR-Philosophen 2.4 BRD-Philosophen über "die Philosophie im einen Deutschland" 2.5 Die innerdeutschen Debatten um die DDR-Philosophie 2.6 Gegenwärtiger Stand der Forschung 1996-2006 Teil I - Zur Genese und Entwicklung des philosophischen Feldes der DDR 1 Logik und Dynamik des philosophischen Feldes 1.1 Institutionelle Entwicklung der DDR-Philosophie 1945-1990 1.1.1 Wiederaufbau der Universitäten und Gestaltung der marxistisch-leninistischen Philosophie 1945-1951 1.1.2 III. Hochschul- und Akademiereform 1969 1.1.3 Die Abwicklung der DDR-Philosophie 1989-1993 1.2 Strukturelle Merkmale des philosophischen Feldes 1.2.1 DDR-Philosophie, Philosophie in der DDR und DDR-Philosoph: Eine Begriffserläuterung 1.2.2 Der philosophische Kanon der DDR-Philosophie 1.2.3 Lehrinstitute und Philosophiestudium 1.2.4 Zugang zum Studium, materielle Bedingungen und Karrierechancen 1.2.5 Philosophische Karriere und politische Funktion 1.2.6 Die Forschungsinstitute 1.2.7 Die zentrale Lenkung der Philosophie: Wissenschaftliche Räte, Forschungspläne, Zensur und Selbstzensur 1.2.8 Verlage und Zeitschriften 1.2.9 Die Rolle der Staatssicherheit in der DDR-Philosophie 2 Symbolische Kämpfe im phi…