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Kultur der Medizin
Der Einfluss der Medizin darauf, wie wir das Alter sehen und damit umgehen, wird immer größer. Medizinische Theorien und Behandlungen prägen das Selbstverständnis und die Erwartungen älterer Menschen. In diesem Band diskutieren Autorinnen und Autoren aus Sicht von Ethik und Philosophie, Sozial- und Geschichtswissenschaft, Medizin, Psychologie, Recht und Theologie die Folgen dieser Entwicklung. Die Themen reichen vom Umgang mit Demenz über die medizinische Versorgung am Lebensende und die gerechte Verteilung von Ressourcen in alternden Gesellschaften bis zur Kontroverse um die Anti-Aging-Medizin. In allen diesen Bereichen zeigt sich: Die moderne Medizin beeinflusst nicht nur, wie alt wir werden sie bestimmt vor allem, auf welche Weise wir alt werden.
Autorentext
Silke Schicktanz ist Professorin für Kultur und Ethik der Biomedizin am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universitätsmedizin Göttingen. Mark Schweda, M. A., ist dort wissenschaftlicher Mitarbeiter.
Leseprobe
Bioethische Reflexion über die Technisierung unseres Lebens tendierte lange dazu, sich auf heikle Grenzfälle wie die Manipulation von Lebens-anfang und -ende zu konzentrieren (z.B. Singer 1994). Hierzu gehören einerseits die seit Jahren intensiv geführten Debatten um die Embryonen-forschung, In-vitro-Fertilisation, Präimplantations- und Pränataldiagnostik sowie den moralischen Status des Embryos. Auf der anderen Seite des Spektrums sind Auseinandersetzungen um Lebensverlängerung und Thera-piebegrenzung, passive und aktive Sterbehilfe, terminale Sedierung sowie die Bedeutung verschiedener Todeskriterien zu verorten (Hilt u.a. 2010). Erst mit der Eröffnung eines weiteren Blickwinkels auf die moderne Medizin wurde deutlich, dass diese Fokussierung weder empirisch noch normativ angemessen ist. Die Medikalisierung sämtlicher Lebensbereiche (Illich 1975: 9f.) erfordert vielmehr eine gesteigerte ethische Sensibilität: Medizinisch-technische Eingriffe verändern unser gesamtes Verständnis des menschlichen Lebens und seines Verlaufes derart nachhaltig, dass die existenziellen Grundbedingungen von Handeln, Entscheiden, Autonomie, Verantwortung und Zukunftsplanung in nahezu allen Lebenslagen ständig aufs Neue hinterfragt werden können. Diese radikale Erweiterung des Blicks - von den extremen Grenzfällen auf das gesamte normale Leben - führt dazu, dass auch dem Prozess des Alterns und seinen Folgen mehr Aufmerksamkeit zuteilwird. Die Medizin hat das Altern als Forschungs- und Praxisfeld entdeckt, das biologisch-kausal aufzuschlüsseln und zu verändern ist. Entsprechend stellt sich aus bioethischer Sicht die Frage, welche Bedeutung und Konsequenzen diese Entwicklung für Patienten und Konsumenten ebenso wie für das ärztliche Ethos und die Politik haben kann. Allerdings werden die verschiedenen bereits existierenden medizinethischen Debatten über das Altern bislang meist separat geführt: Auf der einen Seite geht es um den moralisch richtigen Umgang mit hoch-betagten Menschen und die damit zusammenhängenden Themen wie etwa Bedingungen der Langzeitpflege oder Entscheidungen am Lebensende (Hahnen 2009; Bauer/Endreß 2007; Schildmann u.a. 2006; Mittelstraß 2005; für kulturelle Vergleiche siehe z.B. Prado 2008; Blank/Merrick 2005). Auf der anderen steht die gegenwärtig boomende Anti-Aging-Medizin im Kreuzfeuer ethischer Auseinandersetzung (Maio 2011; Knell/Weber 2009). Dieser getrennte Debattenverlauf könnte nicht zuletzt darauf zurückzu-führen sein, dass (vermeintlich) unterschiedliche Gruppen betroffen sind. Im vorliegenden Band soll diese Trennung kritisch hinterfragt werden. Dabei sollen Verbindungslinien und Überschneidungen aufgezeigt werden, die sich in der Konzipierung des Alterns theoretisch wie normativ ergeben. Einen Ausgangspunkt bildet die prägnante sozialwissenschaftliche These zum wachsenden Einfluss der Medizin auf individuelle und gesellschaft-liche Verständnisse von und Umgangsweisen mit dem Altern. Diese These einer (Bio-)Medikalisierung des Alterns (Kaufmann u.a. 2004; Zola 1991; Estes/Binney 1989) besagt, dass "the medical model - with its emphasis on clinical phenomena - takes precedence over, and in many cases defines, the basic biological, social, and behavioral processes and problems of aging" (ebd.: 588). Mit diesem Vordringen des medizinischen Modells wird demnach sowohl die individuelle als auch die gesellschaftliche Weise, wie man heute allgemein über das Altern nachdenkt, mit ihm umgeht und sich selbst und andere als alte Menschen behandelt, maßgeblich geprägt. In dieser Blickrichtung lassen sich dann zwei Grundannahmen ausmachen: die der Naturalisierung bzw. Biologisierung des Alterns und die seiner Pa-thologisierung. Die Anti-Aging-Medizin kann hierfür insofern als proof of concept, das heißt als Beleg für die Gültigkeit der Grundannahme gelten, als sie die Beseitigung des Problems an sich mit medizinisch-naturwissen-schaftlichen Methoden verspricht (Trüeb 2006). Doch bei näherer Betrach-tung der durchaus durch innere Pluralität gekennzeichneten Medizin kann die Biomedikalisierungsthese nicht alle Phänomene angemessen erklären. Vielmehr lassen sich empirisch und normativ zugleich zahlreiche Pro-Age-Bestrebungen identifizieren, die bestehende Kategorisierungen des Alterns hinterfragen, auf Alternativen innerhalb wie außerhalb der Medizin ver-weisen und positive Seiten des Alterungsprozesses zur Geltung bringen. Gerade im Zuge einer ethisch motivierten interdisziplinären Auseinander-setzung erscheint es erforderlich, beide Ansätze in den Blick zu nehmen. Seit einiger Zeit mehren sich Abhandlungen über das Altern merklich, seien sie (bio-)medizinischer oder sozial- bzw. geisteswissenschaftlicher Art (Akademiengruppe Altern in Deutschland 2009; Gruss 2007; Baltes u.a. 1994). Viele erliegen indes der Versuchung, die steigende Lebenserwartung, den demografischen Wandel und somit die größere Anzahl an Alten als Beleg für die Relevanz ihres Anliegens anzuführen (Pruchno/Smyer 2007). Dabei greift dieses mehrheits- oder massenorientierte Argument zu kurz: Zum einen scheint das, was Alter und Altern ist und künftig sein wird, gerade mit zunehmender Erforschung immer vager, ambivalenter und subjektiver zu werden. Und zum anderen kann man sich durchaus auf den Standpunkt stellen, dass die medizinische und ethische Aufmerksamkeit für das Altern auch dann gerechtfertigt wäre, wenn es nicht so viele Personen unmittelbar beträfe, aber entweder die Eingriffstiefe medizini-scher Maßnahmen oder die Reichweite individueller bzw. gesellschaftlicher Konsequenzen es notwendig erscheinen ließe. Hier setzt unser Band ebenfalls an, indem er das Spannungsfeld zwischen Problemwahrnehmung, Eingriffsmöglichkeiten, verfügbaren Alternativen sowie den vielschichtigen ethischen Implikationen zunächst einmal aufzeigt. Dahinter steht nicht zuletzt das Bemühen, auf die eigentlich normativen Hintergrundannahmen in den oftmals als empirisch-deskriptiv ausgegebenen demografischen Szenarien hinzuweisen. Das Vorhaben, dieses Spannungsverhältnis neu zu vermessen, erfordert notwendigerweise einen fächerübergreifenden, interdisziplinären Ansatz. Praktische, empirische, theoretische und normative Perspektiven müssen sich ergänzen. Insofern wäre es wünschenswert, zukünftig (ähnlich etwa den Gender Studies) ein interdisziplinäres Feld der Aging Studies zu etablieren, in dem weder allein medizinische noch nur sozialwissenschaftliche Zu-gänge dominieren, sondern ethische, anthropologische, epistemologische und methodologische Perspektiven systematisch hinzugezogen werden. Dieser Band beansprucht keineswegs, dies bereits zu leisten, weil hier letzt-lich die ethische Blickrichtung dominiert. Allerdings zieht er historische, soziologische, psychologische, rechtlich-politische, theologische und medi-zinische Perspektiven hinzu und ist zudem bestrebt, verschiedene Formen und Ebenen medizinischer Ansätze bzw. Eingriffe auseinanderzuhalten, um so der Pluralität …