

Beschreibung
Seine Kompositionen prägten maßgeblich den Stil der musikalischen Romantik: Franz Schubert bereicherte die Musik seiner Zeit mit einem sehr individuellen Ton und füllte die traditionellen Kompositionsformen mit neuem Leben. Im Kunstlied, das Schubert zu einer...Seine Kompositionen prägten maßgeblich den Stil der musikalischen Romantik: Franz Schubert bereicherte die Musik seiner Zeit mit einem sehr individuellen Ton und füllte die traditionellen Kompositionsformen mit neuem Leben. Im Kunstlied, das Schubert zu einer ersten großen Blüte führte, erreichte er eine überwältigend dichte Verschmelzung von Wort und Musik. Auf welche Weise dies gelang und warum Schuberts Musik immer noch so sehr berührt, das erzählt Michael Wersin, Autor des erfolgreichen Bandes »Bach hören«, in bewährt erfrischender Weise.
Anhand aussagekräftiger Beispiele (u.a. Erlkönig, Winterreise, Unvollendete) und exemplarisch vertiefender Analysen der Schubertschen Tonsprache erschließt Wersin auf seiner Entdeckungsreise auch für den musikalischen Laien die Bedeutung dieses großen Komponisten des frühen 19. Jahrhunderts. Die analytischen Betrachtungen werden eingebettet in zeitgeschichtliche Zusammenhänge und um Einblicke ins Biografische ergänzt.
Vorwort
»Wo bist du, wo bist du, mein geliebtes Land?« Zum Eingang Das Erscheinen eines bedeutenden Komponisten im Grenz- bzw. Übergangsgebiet zwischen zwei Epochen ist ein kulturgeschichtliches Ereignis, das den zurückblickenden Betrachter auf besondere Weise zu fesseln vermag. Große Musikerpersönlichkeiten sind den speziellen Herausforderungen, die das Wirken in einer solchen Übergangszeit mit sich brachte, auf ganz unterschiedliche Weise begegnet je nachdem, welchen Idealen sie sich verpflichtet fühlten und wie sie sich selbst im Kontext des sie mitbetreffenden Zeit-geschehens positionieren konnten. Zum Beispiel Johann Sebastian Bach (16851750): Als ihm während seiner letzten beiden Lebensjahrzehnte voll-ends klar wurde, dass er mit seinem Weltbild und seiner Musikauffassung zu den letzten prominenten Protagonisten einer dem Ende entgegengehenden Epoche gehörte, bündelte er sein Können und Wissen in exemplarischen Werken, mit denen er den barocken Stil überhöhte und ihm damit weit über seine Zeit hinaus Bedeutung verlieh. Ganz anders Claudio Monteverdi (15671643) am Beginn derselben Stilepoche: Er griff die neuen, revolutionären Ausdrucksmöglichkeiten des frühbarocken Musikstils engagiert auf und scheute dabei nicht die harte Auseinandersetzung mit den konservativen Theoretikern seiner Zeit, die verhindern wollten, dass die Musik sich allzu unmittelbar dem Abbilden menschlicher Gemütsbewegungen widmete und dabei ihre strukturelle Makellosigkeit einbüßte. Und noch einmal anders Franz Schubert, gleichfalls am Beginn einer Epoche: Er prägte mit seinem Schaffen maßgeblich den Stil der musikalischen Romantik, sehnte sich als Mensch und Künstler aber gleichzeitig aus seiner Zeit mit ihren für wache, aufgeschlossene Geister wenig erbaulichen Le-bensbedingungen hinaus. Der daraus resultierende existentielle Konflikt hat ihn auch als Künstler beschäftigt; man kann daher einige seiner Werke u.a. als Dokumente der künstlerischen Auseinandersetzung des Komponisten mit seiner Daseinssituation verstehen. Und weil Schubert sich diesem Konflikt ganz individuell gestellt hat, bereicherte er durch sein Schaffen das Repertoire der musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten um ein breites Spektrum sehr persönlicher, origineller Ausdrucksmittel und -nuancen. Schuberts kurze Lebensspanne (17971828) wird um-fasst von den Eckdaten der francisceischen Ära, jener überlangen Regierungszeit des »guten Kaisers Franz«, die sich von 1792 bis 1835 erstreckte. In dieser Ära lebten die Österreicher wie unter einer Glasglocke. Besonders nach dem Wiener Kongress (1814/15 anlässlich des endgültigen Sieges über Napoleon), als der Staat sich wieder verstärkt auf seine inneren Angelegenheiten zu konzentrieren begann, wurden die Menschen beobachtet und gegängelt; eine Ge-heimpolizei, der ein weitverzweigtes Spitzelsystem zuarbeitete, kontrollierte akribisch die Aktivitäten der Bevölkerung mit dem Ziel, alles zu unterbinden, was die bestehende restaurative Ordnung in Frage stellte. Aus dem Innern der Glasglocke heraus hatten die wacheren Zeitgenossen, zu denen auch Schubert zählte, durchaus einen klaren Blick auf die noch immer ungebrochen aktuellen zukunftsweisenden Ideen der Aufklärung und die potentiell bahnbrechenden Ideale der französischen Revolution, die zu einem zuvor nicht gekannten Maß an individueller Freiheit hätten führen können. Aber im Reich des Kaisers Franz durfte niemand mit solchen Ideen hausieren gehen; jegliches Zusammenkommen von Menschen, das auch nur im entferntesten den Verdacht eines politischen oder aufrührerischen Bestrebens erweckte, wurde sofort aufgemischt und zerschlagen. Schubert kannte die seiner Zeit vorausgegangene, von umfassenden Reformen zur Verbesserung der Lebensumstände der Bevölkerung geprägte Ära des aufgeklärten Absolutismus nicht aus eigener Anschauung. Aber er scheint davon überzeugt gewesen zu sein, dass jene Zeit eine bessere, zumindest eine verheißungsvollere gewesen war, und er glaubte wohl, dem Geist bzw. dem positiven geistigen Potential jener Ära in der ihr zugehörigen Musik der Wiener Klassik zu begegnen: Abdrücke eines lichtern, bessern Lebens hinterließ die Musik des von ihm verehrten Wolfgang Amadeus Mozart in seiner Seele, und er bedauerte, dass er selbst nicht über den ruhigen, klaren Geist verfügen konnte, den er durch die Musik des verehrten Michael Haydn hindurch als bewunderungswürdige Eigenschaft ihres Schöpfers wahrnahm. Indes wurde Schubert, der sich im konservativen Wien seinen Weg zu neuen musikalischen Ufern selbständig zu bahnen hatte, schnell bewusst, dass er unter den Bedin-gungen seiner Zeit keinesfalls mehr im selben Stil komponieren konnte wie kurze Zeit vor ihm Mozart oder wie noch bis in seine eigene Lebenszeit hinein die Brüder Haydn; deshalb suchte er nach neuen kompositorischen Ansätzen und Lösungen gerade für diejenigen Gattungen, die die Wiener Klassiker schon erfolgreich bearbeitet hatten: Das Beschreiten eigener Wege auf dem Gebiet der Sinfonie oder der Kla-viersonate forderte seine ganze Kraft. Die Ausdruckswelt des Kunstlieds hingegen machte er sich schon früh mit großer Souveränität zu eigen: Für die rückhaltlose Verschmelzung von Poesie und Musik, die schon viele seiner frühen Lieder auszeichnet, gab es unter den Liedern der klassischen Komponisten kaum Vorbilder. In seiner Kirchenmusik wiederum verband Schubert Traditionelles mit aufregend Innovativem: Neben vergleichsweise regelkonform gesetzten Fugen und Fugati, die schon seit der Barockzeit in zahllosen Messkompositionen den krönenden Abschluss von Gloria-, Credo- oder Sanctus-Sätzen bilden, finden sich beklemmend emotionale, höchst aufgewühlte Passagen. Grundsätzlich ist die Vermischung von Altem und Neuem in kirchenmusikalischen Werken nichts Ungewöhnliches aber die großen Spannungen und scharfen Kontraste, die Schuberts späte Messkom-positionen durchziehen, lassen erahnen, dass sich sein Seh- nen nach einem lichtern, bessern Leben keineswegs nur auf das Diesseits bezog: Sein Hadern mit den Rahmenbedingungen des Daseins hatte ohne Zweifel auch eine spirituelle Dimension. Wenn Schuberts Leiden an den Zeit- und Lebensum-ständen, das er in seinen wenigen literarischen Erzeugnis-sen, vor allem in dem Gedicht Klage an das Volk! (s. S. 93), sehr prägnant in Worte fasste, auch seine Kunstauffassung beeinflusst hat und diesen Schluss legt besonders das oben genannte Gedicht nahe , dann stellt sich zwangsläufig die Frage nach Beziehungen zwischen Leben und Werk. Und das ist eine sehr heikle Frage: Greift man an dieser Stelle zu kurz und lässt sich verleiten, allzu direkte Verbindungen vom Privatleben zur Musik zu suchen, dann gerät man schnell in das seichte Gewässer jener Klischees, die vor allem die ältere Schubert-Biographik bediente: Demnach hätte Schubert, überspitzt formuliert, wahlweise tieftraurige und bitterernste oder herzzerreißend schöne Musik kompo-niert, weil er arm, krank, erfolglos und unglücklich (und, wie rührend, dennoch so tapfer!) war. Aber: Erstens war Schubert nicht i…