

Beschreibung
Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1920er-Jahre war Paris das Ziel zahlreicher Einwanderer aus Osteuropa, von jüdischen Pogrom- und Armutsflüchtlingen bis zu russischen, teils bürgerlichen und aristokratischen Revolutionsflüchtlingen. Michael G. Esch zei...Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1920er-Jahre war Paris das Ziel zahlreicher Einwanderer aus Osteuropa, von jüdischen Pogrom- und Armutsflüchtlingen bis zu russischen, teils bürgerlichen und aristokratischen Revolutionsflüchtlingen. Michael G. Esch zeichnet ein dichtes Bild ihrer Lebenswelten. Dabei zeigt er, wie sie ihre »Integration« je nach Milieu sehr unterschiedlich gestalteten, wie sie ihre Differenz und ihre Anwesenheit legitimierten und wie ihr Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft war. Er gewährt damit Einblicke in den Prozess des Einheimisch-Werdens, die auch für heutige Debatten aufschlussreich sind.
»Michael G. Eschs Studie vermittelt insgesamt in geradezu idealer, weil in höchstem Maße differenziert-differenzierender Weise vorgehend, eine Einsicht in das migrantische Geschehen im Paris des späten19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.« Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde, 27.10.2013
Autorentext
PD Dr. Michael G. Esch ist freiberuflicher Historiker und Übersetzer sowie Mitarbeiter am Centre Marc Bloch in Berlin.
Leseprobe
Als wesentlich erweist sich für die Quellenlage wie für die Betrachtung des Alltagslebens und der Vergemeinschaftungsstrategien in den einzelnen Vierteln, dass die Bevölkerung der quartiers populaires den Wohnplatz und seine Umgebung - Treppenhaus, Hinterhof, Straße, Café - als unmittelbaren, sozialen und in diesem Rahmen öffentlichen Raum verstand und nutzte. Die Lebensweise in den studentischen wie in den wohlhabenderen Vierteln unterschied sich hiervon weniger wegen eines sozialen Gefälles, das zwischen ArbeiterInnen und häufig mittellosen migrantischen Studierenden auch gar nicht bestand. Die Ereignisarmut - und die darüber vermittelte geringe soziale Kohärenz - in den migrantischen Studierendenmilieus wird aber ohne weiteres erklärbar, wenn wir davon ausgehen, dass die Studierenden, als gewollte künftige gesellschaftliche Elite, nicht auf die Aneignung ihrer unmittelbaren Umgebung hin orientiert waren, sondern auf eine Partizipation an einem nationalen öffentlichen Raum und die Aneignung (oder, bei den Revolutionären, Veränderung) der dort geltenden Regeln. Die Tendenz zur Isolierung von der einheimischen Umgebung mochte umso stärker sein, da dieser nationale öffentliche Raum nicht der des Aufenthaltslandes war, sondern der des Herkunftslandes. In analoger Weise erklärt sich dann auch - neben der durch das soziale Gefälle zu erklärenden anderen Lebensweise - die Blässe des öffentlichen Alltagslebens für La Muette: Zum einen entspricht die Privatheit der eigenen Wohnung dem Selbstverständnis des (gehobenen) Bürgertums und der Aristokratie: Das Alltagsleben der gehobenen Schichten spielt sich innerhalb der Wohnung oder des Hauses ab und nicht in den öffentlichen Bereichen, die in den quartiers populaires so wichtig waren. Hinzu kommt, dass ein großer Teil der öffentlichen Aktivitäten, deren Träger und Trägerinnen die wohlhabenderen, vornehmlich russischen Migranten im XVI. Arrondissement gewesen sind, als möglichst weitgehende Rekonstruktion des verlorengegangenen Staatswesens gemeint war. In den migrantischen quartiers populaires St. Gervais und Clignancourt bestand eine weitgehende Einheit zwischen dem topographischen Raum, in dem die Migrantinnen und Migranten lebten, und dem sozialen Referenzraum, auf den hin ihre Handlungen ausgerichtet waren, in dem ihnen Bedeutung beigemessen wurde und in dem sie ihren Sinn entfalteten. Die kognitive und identitäre Bedeutung dieser beiden Viertel erwies sich dabei nicht als vormoderne, idyllische Einheit von Gemeinschaft, Klasse und Wohnort. Weder St. Gervais noch das Einwandererviertel in Clignancourt waren migrantische Oasen, die vollkommen unabhängig von ihrer unmittelbaren Umgebung entstanden wären und sich entwickelt hätten. Zudem wies ihre Bedeutung erstens in je spezifischer Weise über die in ihnen wohnende migrantische Bevölkerung hinaus: Es wurde gezeigt, dass St. Gervais auch von osteuropäischen Einwanderern, die nicht dort lebten, häufig aufgesucht wurde: zum Besuch des Gottesdienstes, zur Einnahme von Mahlzeiten, zum Besuch von Bekannten, zum Einkaufen und für Freizeitaktivitäten. In etwas geringerem Maße galt dies auch für Clignancourt, wo zusätzlich mit der place Pigalle und dem "russischen Dreieck" südlich des quartier ein sozialer Kontaktraum be- oder entstand, der seine Anziehungskraft nicht mehr durch die migrantische Einwohnerschaft, sondern durch ein spezielles kulturelles Angebot gewann. Zudem unterschied sich die Klientel dieser Einrichtungen in sozialer Hinsicht von denjenigen, die die Einwandererviertel im engeren Sinne aufsuchten: Handelte es sich dort um Besucher, in geringerem Maße um Besucherinnen, die sich als Arbeiter, Handwerker und kleine Gewerbetreibende in einer vergleichbaren sozialen Situation befanden wie die Einwohnerschaft selbst, zogen die Vergnügungslokale im Süden von Clignancourt eine finanzkräftigere Kundschaft an, die ihren Wohnsitz in anderen Arrondissements der französischen Hauptstadt hatte. Der Charakter beider quartiers populaires veränderte sich außerdem im Verlaufe der Zwischenkriegszeit: Zwar gehörte die Mehrzahl der migrantischen Einwohner weiterhin der jüdischen Religion an beziehungsweise entstammte jüdischen Familien. Nach dem Ersten Weltkrieg bildeten sich aber parallel dazu polnisch-katholische (in St. Gervais) und russische (in Clignancourt) Submilieus heraus, die die bereits zuvor bestehenden osteuropäisch-jüdischen Waren- und Dienstleistungsangebote wahrnahmen. In St. Gervais verfügten diese ab Mitte der zwanziger Jahre über eigene Treffpunkte. Für Clignancourt ist eine solche Verschiebung auf der Alltagsebene nicht nachweisbar, wohl aber gab es dort Niederlassungen russischer und ukrainischer politischer Vereine - darunter der russischen faschistisch-antisemitischen Mladoross - in unmittelbarer Nähe zum osteuropäisch-jüdischen Einwandererviertel. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass damit ein räumlicher Bezug intendiert war, etwa in dem Sinne, dass die Jungrussen sich möglichst nahe an der Höhle des Löwen installieren wollten. So fehlte es an jeglichen (registrierten) Übergriffen der russischen Faschisten auf jüdische Migranten und umgekehrt. Gerade der Umstand, dass insbesondere St. Gervais von seinen migrantisch-jüdischen Bewohnern und Bewohnerinnen als jüdisches, von den später hinzukommenden Polen als osteuropäisches (oder ostmitteleuropäisches) Viertel interpretiert wurde, verdeutlicht ein wesentliches Merkmal der migrantischen Anwesenheit in den quartiers populaires: die multiple und parallele Interpretation des städtischen Raumes. Selbst in St. Gervais, dem plecl fun paris, überschritt der migrantische Anteil an der Gesamtbevölkerung nie ein gutes Viertel. Rein quantitativ betrachtet kann also von einem osteuropäischen oder ostjüdischen Viertel im Herzen von Paris nicht die Rede sein. Die osteuropäisch-jüdische Einwohnerschaft des Viertels verfügte zwar bereits vor dem Ersten Weltkrieg über ein reiches Spektrum an Einrichtungen - Geschäften, Gaststätten, Synagogen -, die im städtischen Weichbild unmittelbar sichtbar waren und eine Wahrnehmung des Viertels als Eigenes stützten. Diese Interpretation widersprach aber auf der Ebene des Alltagslebens nicht einer parallelen beziehungsweise weiterbestehenden Vereinnahmung durch die französische Bevölkerung. Es gab keine nachweisbaren Territorial- oder Deutungskonflikte zwischen Migranten und französischer Einwohnerschaft, sehen wir vom kollektiven Vorgehen migrantischer Mieter gegen eine französische Nachbarin oder einer Massenschlägerei zwischen - nicht im Viertel selbst wohnenden - Bauarbeitern und migrantischen Jugendlichen ab. Dabei ist freilich zweierlei zu berücksichtigen: Zum einen sind die ersten 14 Jahre seit dem Beginn einer zahlenmäßig bedeutenderen Einwanderung in das Viertel, also die Jahre 1881-1895, nicht dokumentiert. Zum anderen gab es spätestens im Jahre 1912 eine Initiative französischer Geschäftsleute in…
Tief- preis
